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Les Milles: Vom Internierungslager zur Gedenkstätte

Auf den Spuren Lion Feuchtwangers in Südfrankreich

Text und Fotos: Rainer Heubeck

Der weltweit geschätzte Schriftsteller Lion Feuchtwanger war 55 Jahre alt, als er das zweite Mal in das Gefangenenlager Les Milles bei Aix en Provence eingeliefert wurde. Am 21. Mai 1940 um 5:02 Uhr betrat er das Lager – und erhielt dort die Nummer 187 zugeteilt. Lion Feuchtwanger verstand die Welt nicht so recht – angeblich sollte in dem Konzentrationslager eine „Siebung“ durchgeführt werden, um festzustellen, wer mit Nazideutschland sympathisiert und wer nicht. Doch dass Feuchtwanger als oppositioneller Schriftsteller aus Gegnerschaft zu den Nazis nach Frankreich emigriert war, das wussten eigentlich auch die französischen Behörden. „Die Internierung so vieler Leute, die sich einwandfrei als erbitterte Gegner der Nazis erwiesen hatten, war eine dumme, ärgerliche Komödie“, schrieb Feuchtwanger später.

Südfrankreich - Les Milles
© Rainer Heubeck

 

All das ist lange her – und doch hat es bis zum Jahr 2012 gedauert, bis das Camp des Milles, eine ehemalige Ziegelei, die von 1939 bis 1942 zuerst zum Gefangenen- und später zum Deportationslager wurde, offiziell zur Gedenkstätte erklärt und ausgebaut wurde. Kurz nach der Eröffnung, im Jahr 2013, waren Aktivitäten in der Gedenkstätte ein wichtiger Bestandteil des Programms der europäischen Kulturhauptstadt bzw. Kulturregion Marseille-Provence.

 

Südfrankreich - Les Milles - Deportationswaggon
© Rainer Heubeck

 

Mit Kultur sowie mit Unkultur hat die Geschichte des Lagers in der Tat zu tun – zahlreiche Künstler und Intellektuelle, darunter Schriftsteller, Maler, Juristen und Medizinnobelpreisträger, waren dort zeitweise gefangen. „Wir waren, die politischen Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei, die in Südostfrankreich wohnten, während des Krieges von den französischen Behörden eingesperrt worden in der großen verlassenen Ziegelei von Les Milles bei Aix in der Provence. Wir waren unser über tausend, einmal waren wir beinahe dreitausend, die Ziffer wechselte, ein großer Teil von uns waren Juden“, schrieb Lion Feuchtwanger, nachdem ihm später die Flucht in die USA gelungen war. „Ziegelstaub füllte unsere Lungen, entzündete unsere Augen“, berichtet Feuchtwanger in seinem in den USA verfassten Buch „Der Teufel in Frankreich.“ Professoren, Anwälte und Ärzte, so schildert er, seien in dem Lager interniert gewesen und hatten dort Ziegelstapel angelegt, die sie am nächsten Tag wieder abtragen mussten. „Die Arbeit war nicht eben schwer. Das Ärgerliche, Empörende daran war ihre vollkommene Sinnlosigkeit“, berichtete Feuchtwanger.

 

Südfrankreich - Les Milles - Feuchtwanger „Der Teufel in Frankreich.“

 

Der in München geborene Schriftsteller war nicht der einzige Intellektuelle aus Deutschland, der beengt im Strohlager in der staubigen Ziegelei seine Nächte verbringen musste. Auch der Maler Max Ernst, Oswald Hafenrichter und Max Bellmer, die Schriftsteller Walter Hasenclever, der sich im Lager schließlich das Leben nahm, Alfred Kantorowicz, Friedrich Wolf, Franz Hessel und Golo Mann, der als Kriegsfreiwilliger nach Frankreich gegangen war, um gegen die Deutschen zu kämpfen, und viele andere wurden in das Lager eingesperrt.

Die Ziegelei, so berichtet Odile Boyer, die Geschäftsführerin der Les Milles-Gedenkstätte, sei in den 30er Jahren stillgelegt worden, weil sie nach der Wirtschaftskrise von 1929 in Schwierigkeiten geraten war. Les Milles, so Boyer, ist das einzige noch erhaltene und zugängliche französische Internierungs- und Deportierungslager aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die im September 2012 eröffnete Gedenk-, Kultur- und Bildungsstätte, die sich als Erinnerungsstätte gegen das Vergessen versteht, soll insbesondere jungen Leuten vermitteln, wie es zu einem Genozid kommen kann – aus diesem Grund befasst sich die Ausstellung nicht nur mit historischen, sondern auch mit aktuellen Beispielen.

 

Südfrankreich - Les Milles - Ausstellung
© Rainer Heubeck

 

Die Geschichte des Lagers gliedert sich in drei Epochen – von September 1939 bis Juni 1940 waren in dem Camp, das unter französischer Militärhoheit stand, vor allem Deutsche interniert, die in die unbesetzten Gebiete Frankreich emigriert waren, darunter zahlreiche Intellektuelle und Künstler. Von Juni 1940 bis Juni 1942 in der Zeit des Vichy-Regimes wurde das Lager von der französischen Polizei geführt, diese internierte hier vor allem Regimegegner und Ausreisewillige. Darunter auch der Ungar Laszlo Radvanyi, der Mann der deutschen Schriftstellerin Anna Seghers. Er verbrachte das Jahr 1940 im Lager Vernet Ariege am Rande der Pyrenäen. Anschließend wurde er nach Les Milles verlegt, wo er mehrere Monate interniert war.

 

Südfrankreich - Les Milles
© Rainer Heubeck

 

Von August 1942 bis zum 10. September, noch bevor die Deutschen auch diesen Bereich Frankreich besetzt hatten, begann das traurigste Kapitel des Lagers. In dieser Zeit wurden in Les Milles vor allem Juden interniert, die kurz darauf über Drancy bei Paris in die NS-Vernichtungslager deportiert worden sind. Unter ihnen auch zahlreiche jüdische Frauen und Kinder aus Marseille. Siebzig Jahre, nachdem der letzte Deportationszug in Les Milles abgefahren war, wurde endlich die Gedenkstätte eröffnet. „Wir haben 29 Jahre daran gearbeitet, die ehemalige Ziegelei in eine Gedenkstätte umzuwandeln.1983, als wir anfingen, kämpften wir vor allem mit ideologischen Vorbehalten, in den letzten zehn Jahren waren es vor allem praktische und finanzielle Schwierigkeiten, denen wir uns stellen mussten“, berichtet der Soziologe Alain Chouraqui, der das Gedenkstättenprojekt mit initiiert hat. Insgesamt 10.000 Menschen, so Odile Boyer, waren zwischen 1939 bis 1942 in der ehemaligen Ziegelfabrik interniert, rund 2000 Juden wurden von ihr aus in den fast sicheren Tod geschickt.

 

Südfrankreich - Les Milles
© Rainer Heubeck

 

In der Gedenkstätte Les Milles finden sich zahlreiche Informationstafeln, auch die früheren Schlafräume der Internierten können besichtigt werden. Den Gefangenen gelang es in der Zeit von 1939 bis 1940, als das Lager noch kein Deportationslager war, im Lager eine Art kulturelles Leben aufrecht zu erhalten, sie spielten Theater, malten Fresken und Karikaturen. An den Wänden verschiedener Räume sind noch Überreste davon erhalten. Eine Reihe von Bildern wurde von den Häftlingen sogar im Auftrag der Lagerverwaltung erstellt – diese wollte sich ihren Wachraum mit karikaturähnlichen Wandmalereien ausschmücken lassen.

In dieser Lagerphase war Les Milles zwar ein Internierungslager, in dem die sanitären Verhältnisse zum Teil unzumutbar war. Es war jedoch kein Lager, in dem Menschen gequält und geschunden wurden. Feuchtwanger schrieb später, er habe in Les Milles nie etwas erlebt, „das man als Grausamkeit oder auch nur als schlechte Behandlung hätte bezeichnen können. Niemals wurde geschlagen oder gestoßen oder auch nur geschimpft.“ Feuchtwanger beklagte hingegen eine Mischung aus Schematismus und Schlamperei, aus Gedankenlosigkeit und Herzensträgheit, aus Konvention und Routine.

Südfrankreich - Les Milles - Wachraum mit karikaturähnlichen Wandmalereien
© Rainer Heubeck

 

Wer verstehen will, wie der Alltag im Lager damals war, der findet diesen in Feuchtwangers Buch „Der Teufel in Frankreich“ ausführlich dargestellt. Feuchtwanger schreibt von Nächten, in denen an Schlaf kaum zu denken war, vom „Gegrunze, Gestöhne, Gegähne und Gerülpse“ am Morgen, vom Wettlauf um den Platz an der Latrine und am Wassertrog – und von bis zu 100 Menschen, die in der Schlange standen, um die Toiletten benutzen zu können. „Es gab kein Wasser, man konnte sich vor dem Kot nicht retten und nicht von den dicken Schwärmen von Fliegen“, erinnerte sich Feuchtwanger.

 

Südfrankreich - Les Milles - Gedenkstätte
© Rainer Heubeck

 

Wer die Region Marseille-Provence besucht, für den bietet es sich an, auch die Gedenkstätte „Les Milles“ zu besuchen. Sie ist ein Mahnmal dafür, dass Kultur und Zivilisation keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern stets brüchig und bedroht sind. Dies zeigt die Ausstellung in der Gedenkstätte eindrucksvoll am Beispiel der Genozide an den Armeniern, den Juden, den Sinti und Roma und an den Tutsis in Ruanda. Les Milles soll künftig auch regelmäßig zum Veranstaltungsort werden. „Die kulturelle Auseinandersetzung mit dem Thema ist für uns ein zusätzlicher Ansatz, neben dem rationalen und dem wissenschaftlichen“, erläutert der Soziologe Alain Chouraqui. Wichtig ist ihm dabei, die Gedenkstätte nicht als Kulisse für beliebige Events zu nutzen, sondern Veranstaltungen anzubieten, die helfen, die Mechanismen, die zu Gewalt und Genozid führen, besser zu verstehen.

 

Reiseinformationen zu Les Milles

Kontakt

Site-Mémorial du Camp des Milles, 40, chemin de la Badesse, CS 50642 13547 Aix-en-Provence Cedex 4, Tel. +33 442391711, Fax +33 442243468, www.campdesmilles.org

Literaturtipp

Gausmann, Angelika: Deutschsprachige Bildende Künstler im Internierungs- und Deportationslager Les Milles von 1939 bis 1942. Verlag: Möllmann, Ch, ISBN: 978-3-931156-17-6, 33,00 Euro

Weitere Infos

Tourismusbüro Bouches-du-Rhône : www.visitprovence.com

Französische Zentrale für Tourismus: http://de.rendezvousenfrance.com/

 

Reisemagazin schwarzaufweiss


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