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Frederike Frei Im Gespräch mit Marcus Jensen

Am Erker 83

Erschienen in Münster, Oktober 2022

INTERVIEW

„Mach, Mädchen, mach!“

Frederike Frei über wilde frühe Jahre im Literaturbetrieb

Frederike Frei, bürgerlich Christine Golling, wurde 1945 in Brandenburg an der Havel geboren und wuchs als Tochter eines Offiziers in Rotenburg an der Wümme, Bonn und Hamburg-Blankenese auf. Sie studierte Germanistik und Theologie und an der Fachhochschule für Darstellende Kunst Schauspiel. Drei Jahre trat sie in Wilhelmshaven und Verden (Landesbühne), an den Hamburger Kammerspielen und im Fernsehen auf (Werbespots, Serie, Filme). 1976 wurde sie bekannt durch die Aktion ‚Lyrik im BaUCHLADEN‘ auf der Frankfurter Buchmesse. 1977 erschien ihr Lyrikdebüt Losgelebt und verkaufte sich dreiundzwanzigtausendmal. 1980 gründete sie in Hamburg die Literaturpost e.V., später umbenannt in Literaturlabor e.V., und mitbegründete auch den Writers‘ Room e.V., der noch heute besteht. Wanderung als „Bundesdichterin“ durch Deutschland, Stationen u.a.: Kasseler Documenta 6, 7 und 8. Sie gilt als „vitalste Akteurin der Schreibbewegung“ (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur). 1998 zog sie nach Potsdam, 2012 nach Berlin. Zahlreiche Lyrik- und Prosabände, ein Roman. Zuletzt erschien 2022 der Prosaband Wasser – geometrischer Ort der Sehnsucht im Achter Verlag. Mit Frederike Frei sprach Marcus Jensen in Berlin-Charlottenburg.

Am Erker: Du warst meine erste Begegnung mit dem Literaturbetrieb. Uni Hamburg, die Autorenrunde im AStA. Uns jungen doofen Schreibwilligen hast du gesagt: „Wer über den Betrieb schimpft, gehört dazu.“ Keiner von uns wusste, was wir uns darunter vorstellen sollten. Oder wie wir schimpfen sollten. Tun dir die jungen Schreibenden heute leid?

FF: Warum? Ich hab ja dafür gesorgt, dass sie in den Blick geraten und nicht nur die jungen, sondern alle, die schreiben. Zu meiner Zeit gab es nur den „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“. Der Buchkäufer stand am Ende der Literaturkette. Doch da geht es weiter. Auch der Leser schreibt, so, wie der Schreiber liest. Lesen und Schreiben gehören zusammen wie Ein- und Ausatmen. Dafür hab ich mich eingesetzt.

Am Erker: Jedenfalls musste dieser Betrieb eine bedrohliche Welt sein. Angefangen hast du darin mit einer Aktion, die scheinbar bewusst gegen den Betrieb gerichtet war und dich gleich bekannt machte: Lyrik im BaUCHLADEN, Frankfurter Buchmesse 1976.

FF: Ich schrieb zehn Jahre lang Bewerbungen an Verlage, aber schickte sie nie ab. Es gab zwei Fallen: Entweder sie lachen mich aus oder klauen mir meine Texte. Ich sah vor meinem inneren Auge neunmalklügere Menschen in Verlagen meine Gedichte lesen und manche Formulierungen in ihre eigenen Texte übernehmen.

Am Erker: Gab es jemals einen solchen Fall? Das kenne ich heute nur aus dem Drehbuchbereich, aus einer Welt, bei der das Ego der Schreibenden eh kaum hängen bleibt im Produkt.

FF: Es geht nicht um den Fakt, sondern um die Angst. Ich las manchmal Zeilen, die sich meinen eigenen gefährlich näherten. Ich war aber niemand. Am sichersten war, die Gedichte von vornherein wegzulassen in der Post, die sich dann aber auch erübrigte.

Am Erker: Und es gab betriebstechnisch für dich keine Zwischenstufen? Vereine, Lesungen, Anthologien?

FF: Der Unizeitung hab ich mal ein Gedicht gebracht, das mit Wörtern spielte. Im Falle einer Falle. Hinterm Tresen stand eine, die ich aus der Schule kannte. „Du schreiiibst??“ Das klang, wie wenn der Klassenkasper sich plötzlich um die Kandidatur des Schulsprechers bewirbt. Ich wertete die Zeilen heftig ab. Das Risiko war zu groß, meinen Traum platzen zu sehen.

Am Erker: Was war mit Literaturzeitschriften? Mit Vorstufen? Einzelabdrucken? Hättest du auch das Gefühl gehabt, die klauen das?

FF: Ich las immer mal die Akzente im Carl Hanser Verlag, verstand aber manches nicht. Eine andere Zeitschrift nahm ich nicht wahr. Man richtet sich ja lieber nur nach der besten aus.

Am Erker: Lagen Zeitschriften nirgendwo aus?

FF: Literatur gehörte für mich in Bücher, nicht in Zeitschriften. Drum guckte ich nicht danach.

Am Erker: Und Buchläden? Hast du systematisch nach aktueller Lyrik geschaut?

FF: Einmal wurde ich aus einem Buchladen in Hamburg rausgeworfen, weil ich mir ein Gedicht von Reiner Kunze abschreiben wollte auf dem Fußboden – die Lyrikregale waren immer die untersten. Von seiner Zeile „Fremd wie die Welt eines Tiefseefischs“ war ich hingerissen. Plötzlich: „Was machen Sie denn da?“ Deutlich wurde ich gebeten, den Laden zu verlassen oder den Band zu kaufen. Prompt stand ich draußen. Auch linke Buchläden mied ich. Ich dachte zwar so wie die Inhaber, aber konnte nicht mitreden über San Salvador. Als ich mal nachfragte bei einem Buch über Folter: „Wo wird denn gefoltert?“, kam die Antwort: „Na, in den Ländern, die foltern.“ So etwas musste man also wissen. Ich machte, dass ich wegkam, um mich nicht zu blamieren.

Am Erker: Hättest du dir einen idealen Zugang zur Literaturwelt vorstellen können?

FF: Ich wurde nie danach gefragt. Ich bin auch nicht darauf gekommen, dass ich solche Ansprüche stellen dürfte. Vor dem Laden dann dachte ich: Gedichte müsste es einzeln geben. Klaus Staeck machte damals aus seinen Bildern Plakate. Und ich? LeseZeichen! Ein Zeichen beim Lesen. Der Wunschtitel meines ersten Gedichtbands. Ein abstrakter Begriff wird konkret. Für mich der „Einbruch des Wunderbaren“. Diesen Terminus hatte ich bei E. T. A. Hoffmann im Proseminar gelernt. Warum soll man gleich dreißig Gedichte im Buch kaufen, wenn man im Moment gerne nur eines besäße? Die Frankfurter Buchmesse fing gerade an. Ich beschloss, den Händlern dort meine Idee zu präsentieren.

Am Erker: Moment. Dir ging’s nicht um die Verlage. Du wolltest auf der Messe an denen vorbeigehen – und die Schreibwarenläden abklappern.

FF: Genau. An meine eigenen Gedichte dachte ich gar nicht, sondern an meine Lieblingsgedichte, z.B. Goethes „Prometheus“, den ich auswendig konnte. Bei Mercedes darf man umsonst auf IBM-Maschinen tippen, hörte ich wen sagen. Mit bunten Kartonstreifen und meinen Oberstufenlesebüchern marschierte ich hin. Hölderlin, Goethe, Rilke, Lasker-Schüler, Bachmann. Irgendwann hieß es, ich solle mich beeilen, man schließe bald. Die Gedichte waren einfach zu lang. Meine eigenen waren kürzer. Da ich sie nicht mit den hehren Namen mischen mochte, standen auf einmal nur noch meine da zum Schluss. Ich kannte ja alle auswendig.

Am Erker: Letztlich war es eine Geschäftsidee, so als suchtest du nach Investoren. Heute würde man sagen: eine Start-up-Situation.

FF: Witzig. Aber ich selbst wollte kein Geschäft machen. Ich suchte nur Mitkäufer, damit die Händler sehen, dass Leute so was kaufen wollen. Als ich bei der Messe anrief wegen eines Stands, hieß es: „Liebe Dame …“ Ich hielt die Buchmesse für eine Art Flohmarkt wie in den Hamburger Messehallen. Ohne Platz könnte ich auch herumgehen mit Tüte oder Tablett. Oder Bauchladen? So wie die Hausierer, die mir als Flinkste an der Tür nach dem Krieg ihre Habseligkeiten zeigten: Schnürsenkel, Garn usw. Meine Gedichte – auch eine Art Bindefäden. Den Bauch ausladen – die Symbolik begriff ich erst später.

Am Erker: Jeder würde heute denken: was für eine ganz bewusste Selbstvermarktungsidee. Sich als Autorin mit eigenen Gedichten hautnah zu präsentieren. Aber war es gar nicht.

FF: Man prüfte ja in der APO alles im Hinblick auf Frau Schmitz. Um sie ging es uns. Es war zufällig ein Umweg, den ich damit zu mir einschlug. Ich kaufte einen rechteckigen Strohkorb – die Symbolik Stroh blieb mir auch verschlossen –, zog Kordeln durch, damit ich die LeseZeichen bei Bedarf abschreiben konnte für die Leute. Kostenpunkt: fünfzig Pfennig pro Stück. In der Drehtür der Messe dann der Schock. Ich drehte sofort wieder raus. Bestimmt eine Stunde saß ich im Auto. Probierte heimlich hinter einem Baum, mir das Ding überzustreifen. Das Korbgeflecht wippte in der Taille, saß wie ein Pickel am Bauch. Die Vorstellung, unverrichteter Dinge aus Frankfurt abzureisen, war schlimmer. Schließlich klemmte ich den Korb unter den Arm, schüttete die Lesezeichen in eine Plastiktüte und betrat bravbürgerlich wie jedermann die Buchmesse.

Am Erker: Ließ man dich so rein?

FF: Ich war eine ganz normale Besucherin. Im Angesicht von Millionen Büchern fragte ich mich allerdings: Was will ich hier? Wenn eine gerne singt, meldet sie sich doch auch nicht gleich bei der Oper an. Plötzlich war es mir unangenehm, dass da überhaupt meine eigenen Gedichte im Korb lagen. Mit Goethe und Benn wär ich fein raus gewesen. Ich schob das Ganze weg unter irgendein Gestänge und war es los. Nun guckte ich hier, inspizierte dort, fand Hamburger Mitschreiber, wich ihnen aus. Sicher stand mir mein Plan ins Gesicht geschrieben: Mach ich, mach ich nicht?

Am Erker: Wie mit einem dicken Manuskript auf Suche.

FF: Stimmt. An den Ständen herrschten Zerberusse. Beim Maro-Verlag war viel los. In Scharen umlagerten sie ihn wegen Bukowski. Da hörte ich eine dünne Altherren-Stimme rufen: „Haben Sie Gedichte?“ Doch er drang nicht durch. Er probierte es noch einmal ohne Erfolg. „Ich hab auch welche“, murmelte ich neben ihm. „So? Wo denn?“ „Ach, irgendwo dahinten.“ „Haben Sie bibliophile Gedichte?“ Oh Gott, was war das denn? Er erklärte es mir, aber ich hörte nicht zu. Dafür erzählte ich ihm von meinem Plan. Nun wollte er das sehen und ließ nicht locker. Noch bevor ich es verhindern konnte, setzte er sich in Bewegung. „War es hier? Oder hier?“ Er blieb mir auf den Fersen. Wir bückten uns und schauten unter die Kojen. Irgendwann stolperte ich fast drüber. Da stand der Kasten, unberührt unter einem Seitenvorhang. Ich leerte die Tüte aus, hielt mir den Korb vor den Bauch, der Mann wühlte drin herum, las ein paar Sachen an, legte andere zur Seite, als wär’s eine Grabbelkiste von Woolworth, wobei ich tausend Tode starb. „Vorsichtig!“ Als hätte ich heiße Ware. Andere schauten schon hin und fragten: „Was ist das?“ „Nichts, nichts“, beruhigte ich sie. Wie glücklich wäre ich davongezogen mit dem Ding und ohne Rentner im Schlepp. Nun griff er etwas feinsinniger zu. Das war auszuhalten. Las auch länger und nickte: „Doch, schön.“ „Tatsächlich?“ Mein erster Leser. Nur der liebe Gott weiß, wer das war.

Am Erker: Du hast ihn nicht gefragt, wie er heißt?

 

FF: Ich wollte ihn ja loswerden. Stattdessen gestand ich ihm, „eigentlich wollte ich mir das als Bauchladen um die Taille binden“, und zeigte ihm die verhedderten Kordeln. „Mach, Mädchen, mach!“ Da war es wieder. Er wusste es nicht, aber genau das war der Schlachtruf am Theater, mit dem man mich folterte. Ich durfte mit den Regisseuren die Rolle nie ausführlich bekakeln. Und nun war hier wieder einer, sogar auf meinem ureigensten Gebiet, verlangte dasselbe und – ich machte. Ich dröselte die Bänder auf, zurrte sie fest auf dem Rücken wie eine Schürze und stand so da, wie ich es mir gedacht hatte. Allmählich versammelten sich auch andere Leute um uns herum, griffen hinein, lasen, nickten, lasen weiter, blieben stehen. Auf dem Schild stand, dass es hier meine Gedichte gibt für fünfzig Pfennige, und als ich nicht nachkam – ich konnte nicht oft genug wechseln, erhielt zu viele Groschen –, erhöhte ich den Preis für immer auf eine Mark. Einer drückte mir das Geld in die Hand und zog mit einem LeseZeichen davon. „Halt!“, rief ich ihm nach, „Sie haben das Muster mitgenommen! Ich schreib es Ihnen auf leere Lesezeichen ab.“

Am Erker: Vermittelten die Leute den Eindruck, sie fänden das normal? Als gehöre das mit zur Messe, wie heute die Cosplay-Girls in Leipzig?

FF: Vermutlich. Keiner protestierte. Nur Otto Waalkes quengelte später mal charmant, wollte das getippte Lesezeichen, aber ich blieb hart. Dann fehlt doch das Gesicht ‚Sozialisierung‘:

Bald fang ich an / aufzuhören / Fertig / bin ich schon / Bald glaub ich auch / an alle / und nicht nur / an mich.

Ich schrieb wie die VoPos im Interzonenzug, bevor sie nach der Passkontrolle ‚Angenehme Weiterreise‘wünschten.

Am Erker: Wo blieb der Rentner?

FF: Da fällt mir ein anderer alter Mann ein. Er fragte mich, ob ich ein Gedicht lesen wolle von ihm. „Nö“, lehnte ich automatisch ab. Es war ein Obdachloser. Was hatte der schon zu sagen? Ich sah seine hängenden Schultern beim Weggehen und dachte: Warum schreibt man eigentlich? Um sich auszutauschen. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Seither fragte ich die Leute erst zaghaft, dann deutlicher, ob sie auch schreiben. Das brach Dämme.

Mein Rentner? Er machte sich fertig zum Weggang mit Gedichten. Nun war ich durch die Meeresenge des Lebens geschwommen und konnte ihn ziehen lassen. Es war nicht einmal Zeit zum Verabschieden, ja leider. In der Pardon hab ich ihn erwähnt. Doch dort haben sie ihn in meinem Artikel einfach umgetauft in „der Typ“. Sonst hätte er mir sicher mal geschrieben. Vielleicht hat er? Ich habe noch ganze Ordner voll mit verschlossenen Briefen, nie geöffnet, keine Zeit, mein Leben hetzte weiter, es war zu viel. Später stimmten dann die Adressen schon nicht mehr. Die Leute wandten sich an mich noch zehn Jahre lang wie an den Weihnachtsmann. Der ist allerdings besser organisiert als nun gerade ich.

Am Erker: Heute gäbe es ein Selfie mit dem alten Mann. Der Idealtyp des Lesers an sich. Und auch die anderen, die er anlockte.

FF: Übrigens: Einer der ersten Käufer war Klaus Staeck. Der stand da auf einmal. Ich erzählte von ihm als mein Vorbild. Er kaufte das Gedicht „Streicheleinheiten“:

das ist gewiss ein sensibler mann

der beim spaziergang mit seiner frau

eine katze streichelt

stundenlang zärtlich streichelt

so dass die frau schon langsam weitergeht

stundenlangsam weitergeht

Jemand brachte mich sogar zu Herrn Ledig-Rowohlt in die Verlagskoje. Er meinte: „Die sind ja gut, die Gedichte.“ – „Was haben Sie denn gedacht?“ Ich wurde schon kiebig.

Eigentlich erwartet man in dem Moment, da das Innenleben ins Außenleben tritt, dass sich der Erdboden auftut oder ein großes Gelächter beginnt, das noch jahrelang in den Ohren dröhnt. Für einen selbst ist ja alles neu. Doch die Lampen brennen wie vorher, die Leute sind wie immer freundlich und stumm, muntern dich auf und funktionieren, wie sie sollen. Du hast recht. Als sei es normal, dass du hier stehst mit offener Schublade am Leib. Sie sprechen dich an wie eine Institution. Und vorher hat dich kein Mensch wahrgenommen. Plötzlich erkennst du die Menschen und weißt, sie zu unterscheiden.

Am Erker: Kein Gedanke mehr daran, mit dem Korb zu den Schreibwarenhändlern zu gehen?

FF: Sie kamen ja vorbei. Ich kapierte, dass hier Aktion und Angebot zusammenfielen. Es gab ja nun Gedichte einzeln.

Am Erker: Deine ersten Veröffentlichungen bestanden aus lauter bibliophilen Einer-Originalen.

FF: Jemand griff in den Bauchladen, las eine Karte und warf sie abfällig zurück in den Korb. „Das ist keine Lyrik. Das ist ganz hübsch, mehr Comic.“ „Ja? – Ach.“ „Ich bin Lektor bei Fischer, ich kann Ihnen das sagen.“ „Mir ist es egal, ob man es als Comic oder als Lyrik druckt.“ Sein Auftritt machte mich sicherer. Weshalb griff er nach der Karte? Weil einer sie kurz vorher dort ablegte und mir versicherte, wie gut er den Spruch fände, wie guuut! Guck, so ist die Welt, sagte ich mir und hatte etwas gelernt, was mich nie wieder verließ. Im Brustton der Überzeugung sagen sie dir, wie sie es finden, und niemandem musst du glauben, nur dir selbst. Es war das einzige LeseZeichen mit einer Zeichnung von mir: Jemand schwingt sein Bein auf einem spitzen Gipfel. Darunter stand: „Am Abgrund / kommt es allein / auf die Haltung an.“

Am Erker: Hattest du das Gefühl, du wurdest als Dichterin wahrgenommen oder als Phänomen?

FF: Als Autorin. Noch nach Buchmessenschluss musste ich auf dem Kantstein den Leuten meine Gedichte abschreiben. Eine sagte zu mir, sie hätte noch nie ein Gedicht gelesen. Schon stand der Nächste da.

Am Erker: Und du hattest jetzt keine Angst, die ersten Besitzer könnten deine Gedichte klauen? Galten plötzlich andere Gesetze?

FF: Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Sie wollten es für sich persönlich haben, nicht für ihren Erfolg. Es war der direkte Kontakt. Ich nutzte die Abschreibezeit, um mich mit ihnen über meine Texte zu unterhalten. Da sie das Gedicht kaufen wollten, konnte ich Kritik aushalten. Und sprach sie auf Schwachstellen hin an. Ich arbeitete ja immer gern weiter an den Dingern. Zwei Journalisten sprachen mich an. Tübinger Texte, die literarische Illustrierte. Sie baten mich um ein paar Texte für ihre Zeitung. Über mich schrieben sie: „Der kleinste BUCHLADEN der Welt. Es herrschte kein Kaufzwang, sondern Sprechzwang, denn die Autorin, Verlegerin, Druckerin und Händlerin in einer Person wollte wissen, wer ihre Gedichte kaufte und weshalb und weshalb nicht.“ Einer meiner Lieblingsschriftsteller – Rühmkorf – regte sich später mal auf, dass ich ein Gedicht eine Kontaktanzeige nannte, ahnte nicht, dass ich es wörtlich meinte: Ich zeige an, dass ich berühren möchte. Gerade die Modewörter, unter denen ich ja selber litt, wollte ich aufwerten, indem ich sie auf ihren Ursprung zurückführte.

Am Erker: Dein allererster Medienkontakt?

FF: Erst später erfuhr ich, welche Ehre das war, als Anfängerin zum Beispiel ins litfass zu kommen. Jetzt aber schien es mir, als hielte es mich ab vom Publikum. Ich geizte mit meiner Zeit, wollte die beiden Redakteure nur beim Essen treffen. So war es immer mit dem Ruhm und der Ehre. Ich wurde berühmt, als es mir darum ging, nicht mehr berühmt sein zu wollen, sondern allein mit meinem Publikum zu bleiben. Berühmt werden macht Spaß, berühmt sein eher keinen.

Am Erker: Wieder diese scheinbare Selbstvermarktung, die deinerseits keine sein sollte und sich tatsächlich auch nicht so übertrug. Man glaubte dir, dass es kein taktischer Zug war.

FF: Einmal, als das ZDF kam, sich aufbaute bei mir und sofort die Scheinwerfer anknipste, verlangte ich, dass sie sie wieder löschten. „Merken Sie nicht, welche feine Leseatmosphäre hier herrscht? Mit Ihrem Licht machen Sie alles kaputt.“ Plötzlich sah ich da Leute stehen, die nur pro forma nach den Gedichten griffen und ins Bild wollten. Das Team packte wütend ein.

Am Erker: Du hast das in unserer Autorenrunde so genannt: „Man steckt im eigenen Ei.“

FF: Das weißt du noch? Eine einzige Euphorie, diese Buchmesse. Fast alle klopften mir auf die Schultern, kauften, lasen, lobten, freuten sich. Man bot mir Quartier an. ZDF-Aspekte filmte. Sie baten mich, von weitem auf sie zuzukommen. Ich tat ja damals, was man mir sagte. Unser Vater hatte morgens Händeappell mit uns gemacht. Wie gewünscht schritt ich also auf die Kamera zu. Sie nutzten es als Aufmacher für ihre Sendung.

Am Erker: Lass mich raten: Du wusstest wie bei der litfass nicht, wer die waren?

FF: Ich sah damals nicht fern.

Am Erker: Obwohl du im Fernsehen aufgetreten bist!

FF: Mir als Bühnenschauspielerin war das Fernsehen fremd und wurscht. In einer Hauptrolle in einem Dreiteiler hab ich noch nicht mal das Drehbuch gelesen, weil ich dachte: Ich kenne keine Doris unter den Theaterrollen. Plötzlich musste ich allnächtlich noch Texte lernen. Irgendwann später hat mir einer den Aspekte-Film gezeigt. Völlig unnatürlich wandele ich da entlang. Das war nicht ich. Im Leben wiesele ich um Ecken. Sie wollen die Wirklichkeit festhalten im Bild, aber führen erst einmal Regie mit ihr.

Am Erker: Hattest du schon in den späten Siebzigern ein ‚Image‘?

FF: Ich hab zum Beispiel erlebt, dass eine Buchhändlerin ihrem Publikum davon erzählte, sie habe mich vor Jahren öffentlich in einer Badewanne sitzen sehen. Es war zwar im Bücherkarton, aber warum sollte ich ihr das Bild kaputtmachen? Kein Mensch wunderte sich: wieso in einer Badewanne? Sie nehmen es einfach hin. Ich trat in Drei nach neun auf, wurde dort als Erstes gefragt, ob ich eine „Politlesbe“ sei – weder Polit noch Lesbe, war ich versucht zu antworten, merkte aber, dass ich damit gezwungen wurde, mich von Lesben zu distanzieren, drehte mich um und unterhielt mich einfach mit der Kameraassistentin statt mit der Moderatorin, fragte sie, ob sie mich kennt. Ja, sagte die, und sie schriebe auch. Wir waren beim Thema, und die Moderatorin kam nicht mehr zum Zug. Der SPIEGEL freute sich später, dass man auf diese Weise mal die gekünstelte Atmosphäre hinter den riesigen Maschinenkameras mitkriegen konnte. Damals wurde noch gelesen. Ich lebte in einer Welt ohne Computer und Smartphones. Heutzutage muss man sich freuen, wenn die Texte nicht nur angelesen werden.

Am Erker: Nach der Buchmesse bist du mit genau dem BaUCHLADEN in deiner Gegend von Haus zu Haus gezogen und hast geklingelt und gefragt: Haben Sie Lust, mal ein Gedicht zu lesen? Also wirklich im eigentlichen Sinne des Hausierens.

FF: Auch im Tausch! Gegen eine Pantomime, ein Lied oder ein Gedicht. Jemand schmetterte im Hausflur: „Im Frühtau zu Berge!“ Da las dann so eine Mutter mit Kind in der Tür plötzlich ein Gedicht über Kindererziehung und meinte, das sei gar nicht falsch, da mal drüber nachzudenken. Eine ältere Dame zog aus ihrer Handtasche ein Gedicht „Stufen“. Das hatte sie seit fünfundzwanzig Jahren mit sich dort herumgetragen und nie wem zu lesen gegeben. Jeder zweite Deutsche schrieb. Männer befürchteten, nicht gut genug zu schreiben, Frauen, nicht wichtig genug zu sein, um überhaupt zu schreiben.

Am Erker: Du warst die Erste, die sie jemals gefragt hat.

FF: Das hatte ich dem Obdachlosen, den ich stehen ließ, zu verdanken.

Am Erker: Du warst nach heutigen Begriffen eine Influencerin. Deine plötzliche Berühmtheit führte direkt zum ersten Gedichtband, zu Helmut Braun, bekannt als „größter Kleinverlag“.

FF: Auf der documenta 6 saß ich damals, Sommer 1977, übernachtete in einer angebotenen Wohnung, atmete auf, weil nun das Buch fertiggeschrieben war, sagte im Sessel laut zu mir: „Da haste ganz schön losgelebt.“ Fuhr wie angestochen hoch und rief Braun an, beschwor ihn im allerletzten Moment, den geplanten Titel rauszunehmen und stattdessen Losgelebt zu nehmen.

Am Erker: Verleger lieben solche Aktionen … Auf welchen Titel hattet ihr euch geeinigt?

FF: Von Anfang an. Viel zu ichig und biblisch. Von Kassel aus trampte ich, als ich die Fahnen bekam, zum Verlag und wollte es anders. Das Buch wurde nach meinem Wegtrampen neu gesetzt und gedruckt.

Am Erker: Du hast mal erzählt, wie du den armen Braun damit wahnsinnig gemacht hast, dass du, als der Druckstock schon fertig war, alle Gedichte in deiner Handschrift setzen lassen wolltest, für Offsetdruck.

FF: Er wurde erst wahnsinnig, als mir nach der Nacht, in der ich dort alles in Handschrift schrieb, mir morgens auch Handschrift nicht gefiel, weil zu elitär. Meine Freundin in Hamburg riet mir telefonisch: „Mischen.“ Ich tippte dann die längeren Gedichte ab fürs Buch. Musste jeden Buchstaben doppelt anschlagen, weil das Farbband schwach war und man so frühmorgens kein neues kaufen konnte. Ich wunderte mich, dass mir keine Sekretärin ihre Schreibmaschine lieh.

Am Erker: Das konntest du durchsetzen, so bekannt warst du damals schon. Das bedeutete enorme Mehrkosten.

FF: Ich glaube, er war einfach so nett. Er war ja der Biograf und Betreuer von Rose Ausländer.

Am Erker: Wie hast du dich eigentlich finanziert, als du nur noch Autorin sein wolltest?

FF: Ich hab vom Buch und den Lesungen gelebt!

Am Erker: Helmut Braun musste Konkurs anmelden.

FF: Deshalb war es ja möglich. Als Neuling in der Branche war ich erstaunt gewesen, dass mein Verlag extra einen Vertrag mit einer Auslieferung hatte. Ich bekam einfach mal Lust, dort zu fragen, wie das so ist, mein Buch zu verschicken, wollte reinschnuppern in das Zimmer, rief bei Bertelsmann in Gütersloh an. Musste lange warten, bis derjenige gefunden wurde, wollte schon auflegen. Ein Herr Steinmetz. Kurz angebunden und in Eile. Ich druckste rum, hatte nicht viel zu sagen, wurde rot, da kam die rettende Idee: „Besitzen Sie das Buch eigentlich?“ „Nein.“ Ich wunderte mich, dass er ein Buch vertreibt, das er gar nicht kennt. „Oh, gut, dann schicke ich es Ihnen mal.“ „Können Sie machen.“ Aufgelegt. Ich war entlassen. Widmete ihm ein Exemplar, schrieb auch meine Adresse hinein. Dann ging mein Verlag plötzlich ein.

Am Erker: Brauns einziger Erfolgsautor, Hilsenrath, hatte ihn für Piper verlassen.

FF: Ach, für Piper? Meine Lyrik lief ganz gut. Irgendwann rief mich Herr Steinmetz an, ob ich noch Bücher vorrätig hätte. „Ja.“ „Dann schicke ich die Bestellungen an Sie weiter.“ „Was soll ich damit?“ Er selbst hätte auf die Bestellungen Nicht lieferbar stempeln müssen, und damit wäre das Buch erledigt gewesen. Er sagte mir kurz, wie man so eine Bestellung bearbeitet, ich schrieb mit. Nach einiger Zeit rief ich ihn erneut an: „Sie schicken mir immer noch Bestellungen, ich hab aber keine Bücher mehr.“ „Lassen Sie doch nachdrucken.“ Er wusste, wo. „Die haben bestimmt noch die Platten.“ Schallplatten? Ich wiederholte bei der Druckerei seine Frage im Wortlaut: „Haben Sie noch die Platten von meinem Buch Losgelebt?“ „Moment.“ Einer wanderte in den Keller, kam wieder hoch nach langer Zeit und sagte: „Ja, haben wir noch.“ „Kann ich Bücher nachbestellen?“ „Wie viele?“ „Na, so zwanzig.“ „Wir drucken nur mindestens tausend.“ Oha. „Was kosten die?“ „Zweitausend Mark.“ Ich bekäme also tausend Bücher für zwei Mark das Stück? So günstig? Neun Mark kosteten sie im Verkauf, und nur neunzig Pfennige erhielt ich davon als Verlagsautorin. Im Direktverkauf bekäme ich jetzt sieben Mark und von den Buchläden immerhin fünf Mark pro Stück. Kurz entschlossen sagte ich zu. Über zwanzigtausend Bücher hab ich auf diese Weise verkauft, bis mein späterer Verlag die letzten Auflagen druckte.

Am Erker: Von der Influencerin zur Selfpublisherin. Keiner hat nach den Rechten gefragt?

FF: Den Verlag gab’s ja nicht mehr, und Braun hatte andere Sorgen. Er hätte ja gar nicht profitieren dürfen. Ich habe jahrelang davon gelebt, dass ich bei Bertelsmann nicht vorher auflegte, sondern durchhielt. Innenleben muss ins Außenleben, damit wir wissen, wie wir sind – das wurde meine Parole. Man muss seine Peinlichkeiten auf den Tisch legen, da geht der Weg lang, bevor man die Kurve kratzt.

Am Erker: Du hast mit einem Zombieverlag hantiert. Was für ein Graubereich.

FF: Ich hab normal Steuern gezahlt. Schade, Herrn Steinmetz habe ich nie kennen gelernt. Als ich es wollte, war er nicht mehr da, und keiner hatte seine Privatadresse.

Am Erker: Ein Retter wie der Rentner.

FF: Im Direktverkauf sah es so aus: zwei Büchertürme rechts und links von mir, und ich saß im leeren Bücherkarton auf den Documentas, schrieb Auftragsgedichte. Prosa 3, Lyrik 5 Mark. Hatte Lust auf neue Gedichte.

Am Erker: Eine heute kaum vorstellbare Zeit des Aufbruchs. Du hast die erste und wahrscheinlich einzige deutsche „Dichterdemo“ organisiert, 1979 in Hamburg.

FF: Ich weiß noch, wie ich am Hauptbahnhof meine Gedichtzeile durchs Megafon rezitierte: „Die Gräser schneiden Fragen an / die den Himmel schwer belasten“

Am Erker: Und dann hast du mit deinem Rückenwind 1980 die „Literaturpost e.V.“ gegründet, in einem ehemaligen Schaumstoffgeschäft. Die Bauchladen-Frau hast du auslaufen lassen.

FF: Man lud mich ein auf die Internationale Funkausstellung in Berlin, aber ich wollte kein Maskottchen werden. Wir arbeiteten an unseren Texten, aus den Lesungen wurden Rundum- und Querlesungen nach rotem Faden, und ich überlegte bei allen Texten, wohin mit ihnen, um die Bücher letztlich vor ihnen zu schützen. Gedichte eines Arztes in sein Wartezimmer, Texte gegen Verkehrslärm ins Bushäuschen, Thema Arbeitslosigkeit ins Arbeitsamt. Texte aus dem Knast in Jura-Fachbücher. Wir haben Plakatwände gemietet für Texte, die uns begeisterten. Kunst kommt zwar aus dem Alltag, aber meist nicht wieder in ihn hinein. Mein Kriterium war nicht nur gut oder schlecht, sondern: wichtig für wen?

Ich verfasste für Piper meine Erlebnisse. Sie wollten es mit Fotos drucken. Ich nicht. „Die Bilder sind in den Wörtern!“ Dr. Heldt guckte mich an: „Das kann dauern.“ „Na und?“ Das Buch kam nicht zustande. Ich verstand mich als Autorin, nicht als Type. Das Buch über meinen Weg als Wörterfrau würde ich heute allerdings Piper geben mögen, wenn fertig.

Am Erker: Die Literaturpost als Laden: Miete, Strom, Heizung etc. Wie ging das?

FF: Wir hatten dafür den Verein, der bekam Spenden. Für die Miete hat es gereicht. Wir schrieben über das riesige Schaufenster nur unsere Konto-Nummer. Die Autofahrer stoppten, lasen, gaben erbost Gas. Manche hielten auch länger an …

Am Erker: Dieses Wir – habt ihr die Literaturpost als Kollektiv begriffen? Das Tagebuch der ersten Jahre habt ihr zumindest kollektiv geführt. Liegt heute im Hamburger Staatsarchiv. Ich durfte es 1995 noch live anlesen.

FF: Wir haben uns als Gruppe verstanden. Ich gab ja in der Uni und an der VHS Kurse und machte Lesungen als Literattenfängerin. So kamen immer neue Schreiber dazu. Auch aus der Nachbarschaft, der Wirt von gegenüber. Mit Peter Dölling, Birgit Rabisch, Lutz Flörke und etlichen anderen lehrte ich das Handwerk. Daraus wurde dann später die Namensänderung in Literaturlabor e.V. Dabei ging es nicht mehr darum, dass man schreibt, sondern wie. Manche waren schon oder wurden Schriftsteller, sind es heute noch. Du ja auch. Sagtest du nicht, du hast Textpraxis gelernt durch mich statt nur Theorie an der Uni und warst darüber froh?

Am Erker: An der Uni spielte die literarische Praxis nicht die geringste Rolle. Deine Herangehensweise fand ich normal, weil ich keine andere kannte. Dabei war das in den Achtzigern etwas Neues. Eine Journalistin, die ich viel später kennen lernte, berichtete mir, sie ging damals mit ihrem Freund abends am Laden vorbei, sah all die Leute drinnen wuseln und dachte ganz ehrfürchtig: Hier geschieht die Avantgarde. Sie hatte immer noch eine Gedichtkarte von dir in der Küche hängen. Wie kam der Name Literaturpost zustande?

FF: Beim internationalen Literaturfestival in Berlin wurde mein Satz in einer Diskussion „Literatur ist Post“ vom Tagesspiegel als Titelzeile über das Festival gesetzt. Ich meinte damit: Nachricht von einem an andere. Der Mensch benutzt dafür literarische Formen. Man kann ja nicht einen Brief ‚An alle’ schreiben und in den Kasten werfen, kommt nicht an. Schon nahm ich den Satz ernst und gründete den Versand Literaturpost. Nora Seibert und Martina Bick waren mit als Erste dabei. Texte in Briefumschlägen, DIN-A5. Nach Themen geordnet. Mit Absender der Autorinnen und Autoren. Datenschutz gab es nicht. 2,50 das Stück in Briefmarken. Und man hatte damit lauter verschiedene Brieffreunde und -freundinnen von Gedichten und Prosa. Wir hätten eine Partnervermittlung aufmachen können.

Am Erker: Das Ganze war ein Texte-Austausch, und zwar international. Ein rein papierener Vorläufer des Internets, anno 1980. Ihr wart der Server.

FF: Es kamen die verrücktesten, berührendsten Einsendungen. Mitunter tolle Texte.

Am Erker: Leute aus aller Welt schütteten euch zu mit ihren Texten privat bis literarisch und bekamen wiederum die Texte der anderen zum selben oder anderen Thema je nach Wunsch zugeschickt.

FF: Eine junge Frau machte z.B. in Hamburg Station auf einer Reise, nur um unseren Laden zu besuchen. Sie kaufte sich den Umschlag Thema Reisen, lernte darüber ihren Mann kennen, heute ein bekannter Autor. Inzwischen gab es weitere Literaturpost’en, Literaturpost Ostsee, Literaturpost Südwest, Bremen usw. Die Idee war ja frei. Der Briefumschlag Thema Reisen kam z.B. von der Literaturpost Rhein-Ruhr und lag auch bei uns aus. Ich hab das gar nicht mitgekriegt. Es war eigenständig organisiert. Die Idee beflügelte uns gemeinsam.

Am Erker: Wer bestimmte, welche davon in die Umschläge kamen?

FF: Die Texte selber, letztlich.

Am Erker: Und geschah alles ehrenamtlich?

  1. Ich würde sagen: freundschaftlich. Die ABM-Stellen kamen ja erst später. Man traf sich auch zu Literaturposttreffen. Alles wurde offen ausgetragen. Einmal kriegte ich einen Kinnhaken von einem, haha. Jetzt weiß ich, wie das ist. Man versteht gar nicht, was los ist, weil man den nicht kommen sieht. Hast du schon mal einen Kinnhaken bekommen?

Am Erker: Das hätte ich gemerkt.

FF: Als wir uns im Ernst aus Spaß „Literaturpostamt“ nannten, bekamen wir einen Brief von der Bundespost wegen Amtsanmaßung. Ein befreundeter Rechtsanwalt setzte ein launiges Schreiben auf, das Gründe aufführte, weshalb man unsere Literaturpost nicht mit der Bundespost verwechseln könne. Haha.

Am Erker: Die Post war sicher auch ein Startschuss für die Gründung von zahlreichen Literaturhäusern bundesweit.

FF: Auf den Frankfurter Buchmessen hatten wir einen eigenen Literaturpost-Tisch, vor der Rolltreppe, und verkauften die Umschläge „zum Selbstkostenpreis“. Thema Widerstand, Kinder, Beziehung, Liebe, Ich, Angst, Wohlfühlen, Im Büro, Literatur, AKW u.v.a. Ich bekam einen Blankoscheck für Narrenfreiheit vom technischen Leiter, Herrn Fenke, sinngemäß: „Frau Frei darf machen, was sie will“ auf seiner Visitenkarte. Damit die Securityleute mit den Walkie-Talkies uns in Ruhe ließen. Herr Fenke zu mir: „Ihnen haben wir die Alternativbuchmesse zu verdanken.“ Halb verwundert, halb vorwurfsvoll. Sie begann bei der nächsten Buchmesse.

Am Erker: Heute schreiben und lesen doch fast nur noch Bürgerliche. Du hast bei uns Youngsters oft das Wort „Solidarität“ fallen lassen, ich als Kind der Achtziger wusste nur, dass damit linke Gruppierungen der Siebziger sich untereinander versicherten, sie würden an die anderen denken – angesichts einer Welt, die als feindlich empfunden wurde. Aber in der Literatur?

FF: Auf den Literaturfestival in Berlin mit lauter Promis von Rühmkorf bis Grass, wozu ich auch eingeladen wurde, ärgerte ich mich, dass die meisten Schriftsteller es nicht nötig hatten, am Publikumsgespräch teilzunehmen, und das Publikum untereinander abwerteten. Ich lud mit einem Flugblatt Schreibende auf dem Rasen zu einer Rundumlesung ein: Wer liest, schreibt auch (auf). Und wo ist diese Literatur? Fällt sie unter den Tisch? In die Schublade? Wollen wir sie mal auf den Tisch legen? Kein Platz? Warum nicht?Anschließend besetzten wir die Bühne. Der Erste, den ich anstiftete zu lesen, war – ein Stotterer. Rühmkorf meinte zu mir, er fände gut, was ich mache. Aber er sagte es nicht laut. Neulich sprach mich einer von damals an. Der wurde und blieb durch das Erlebnis Schriftsteller. Aus einem Verlagsbrief an mich, ob ich ein Kinderbuch schreiben wolle, machte ich ein Flugblatt für jedermann: „Wollten Sie nicht immer schon ein Kinderbuch schreiben?“ Die Gewerkschaftler waren entsetzt. Dicke Tapetenbücher beklebte ich mit den getippten oder handgeschriebenen Texten plus Absendern der Schreiber, schleppte sie mit mir mit und legte sie öffentlich aus auf Veranstaltungen, auch vom Schriftstellerverband, in dem ich ja war.

Am Erker: Das hat Publikum rangeschafft.

FF: Darin steht auch mein Eindruck einer Walser-Lesung. Ich hörte Walser sagen, er habe nur gekürzte Passagen vorgelesen, nach Pointen ausgewählt. Eigentlich habe er vorm Publikum Angst, es sei ihm lieb, wenn es lache. Es saßen da lauter Mucksmäuschen. Da bin ich spontan aufgestanden: „Dass du Angst hast, das verkaufst du als Scherz. Sind wir hier Lachpublikum im Einmanntheater? Dafür können wir woanders hingehen, hier ist es uns ernst. Auch mit unsern Ängsten, drum lesen wir und schreiben. Wenn du nicht da oben anfängst, deine wirklichen Probleme wirklich zu nennen (auch die, die du mit uns hast), Dinge zu verändern, nicht nur, indem du davon schreibst, sondern sie auch tust, zum Beispiel Lesungsstrukturen veränderst, die dir doch auch nicht gefallen – wer denn dann? Du hast doch die Macht. Immer wird Literatur als etwas Hohes angesehen. Sie kommt aber aus den Niederungen der Leiden, verbunden mit den Höhen der Sprache, ist nicht mit Weihwasser gewaschen, sondern mit allen anderen Wässerchen. Die Zeit des Göttlichen ist vorbei, es kommt die Zeit des Menschlichen.“

Ich wollte partout die Schwellenangst abbauen. Die Schlusszeile aus einem Gedicht von Raimund Petschner „Wir haben Mut & Wut & Träume“, das er uns schickte, wurde zur nächsten Überschrift auf unserem Schaufenster. In einem S- und U-Bahnhof hatten wir einen Textschaukasten gebaut und gemietet. Manche ließen eine Bahn dafür fahren. Unter den Texten standen die Adressen der Autoren und auch die Grabstätten verstorbener Dichter. Mein Lesungspublikum in der BRD forderte ich auf: „Trefft euch doch noch mal! Warum nur meinetwegen kommen?“ Sie verabredeten einen Termin. Ich organisierte sogar noch eine Schreibaktion zur Rekrutenvereidigung für einen Text aus der Rundumlesung, bat nur wen, mir ein Foto von der Aktion zuzuschicken. Hab’s erhalten. Man sieht meine gestrigen Zuhörer auf der Straße knien und schreiben und etliche Leute drumrum.

Am Erker: Kamst du in dem ganzen Trubel überhaupt zu was Eigenem?

FF: Ich liebe das Schreiben, auch das anderer. Geschrieben habe ich immer, Gedichte und Geschichten. Eine Gefahr des Erfolgs war übrigens Populismus. Aber es machte mich stolz, wenn ein Verlag für Anthologien mich fragte, warum es in Hamburg so viele unbekannte gute Schreiber gäbe, das wundere ihn.Mich nicht.

 

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Ideenwettbewerb in Corona Zeiten

Ideenwettbewerb

“Es gibt nichts Gutes außer: Man tut es.”
Erich Kästner

Die aktuelle Situation ist für alle von uns aussergewöhnlich und belastend. Viele Gedanken bewegen uns. Gute und weniger Gute.

Wir möchten Euch aufrufen schreibt Eure Gedanken in einem kleinen Gedicht oder einer Kurzgeschichte nieder. Komponiert ein Lied. Malt ein Bild in dem Eure Gedanken zum Ausdruck kommen, oder… oder… oder… und schickt es uns, wir veröffentlichen es auch unserer Website oder unserem YouTube Kanal.

Unten folgt ein erstes Gedicht von Sigrun Casper zu Ihrem aktuellen Empfinden.

…und…bleibt gesund !

Euer KüKo Team

+++++

Corona

 

Der Frühling zeigt endlich sein Lachen,

was raus will, sprießt aus den Zweigen,

reckt sich bunt aus den Wintersachen,

tanzt im Wind einen fröhlichen Reigen.

 

Abgesehen von den ganzen Problemen

könnte alles wie jedes Jahr sein,

man pfeift für n Moment auf die Themen

und lässt frische Luft in sich rein.

 

Das ist aber dies Jahr kaum möglich,

denn was Schlimmes geschieht auf Erden.

Zu Tausenden krepieren wir täglich.

Noch hilft nichts, dass es weniger werden.

 

Wenn irgend möglich, zuhause bleiben.

Den Medien bleibt nur die eine Tonart,

um den Eingesperrten die Zeit zu vertreiben:
 von vorn und von hinten Corona.

 

Versucht wird alles, was möglich bleibt:

Die Cafés, die Geschäfte: verschlossen.

Und wer nun schwarze Zahlen schreibt,

kriegt bis auf Weiteres Geld vorgeschossen.

 

Abstand halten beim Einkaufen gehen

wir tun es brav, ist auch vonnöten.

Doch meiden wir ängstlich, uns anzusehen.

Als könnte ein freundlicher Blick schon töten.

 

Vor den Fenstern der Krankenräume

macht das Wachsen und Grünen nicht Halt

ein schneller Blick auf die schönen Bäume

gibt Träumen vom Lebenbleiben Gestalt.

 

Dank allen Retterinnen und Rettern

Und allen, die selbstlos dabei assistieren,

die Gefahr endlich zu zerschmettern,

damit wir die Lebenslust nicht verlieren!

 

© Sigrun Casper

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NEUE LESEBÜHNE FÜR AUTORINNEN UND AUTOREN

Das Literarische Colloquium Berlin zieht zu rbbKultur ins Radio und ins Internet

Unter dem Titel “weiter lesen – das LCB im rbb” bieten das Literarische Colloquium Berlin (LCB) und der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) Autorinnen und Autoren eine neue Bühne. Die Lesebühne des LCB am Wannsee wird in Teilen zu rbbKultur ins Radio und ins Internet verlegt.

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Verbund der Öffentlichen Bibliotheken Berlins: Digitale Angebote sind ab sofort drei Monate kostenlos

Die digitalen Angebote des Verbunds der Öffentlichen Bibliotheken Berlins (VÖBB) sind ab sofort für drei Monate kostenlos. Der VÖBB bietet E-Books, Film- und Musikstreaming, Lexika und Datenbanken und reichhaltige Möglichkeiten für E-Learning und verstärkt diese Angebote aktuell noch weiter.

Der Ausweis kann online unter www.voebb.de gebucht werden.

Der Senator für Kultur Dr. Klaus Lederer zum neuen Angebot für Berlin „Gerade jetzt benötigen die Menschen in Berlin die Unterstützung ihrer Bibliotheken, ob zur Bildung oder für Unterhaltungsangebote. Der VÖBB bietet eine der wichtigen Plattformen für digitale Angebote in Berlin. Der kostenfreie Ausweis ist das richtige Signal: Unsere Bibliotheken sind für alle da, auch jetzt.“

Menschen, die bereits einen Bibliotheksausweis besitzen, der aber in diesen Tagen abläuft, können ihren Ausweis gleichfalls für drei Monate kostenfrei verlängern.

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ERIK-NEUTSCH LITERATURWETTBEWERB 2020/2021 FÜR JUNGE AUTOR*INNEN BIS 35 JAHRE

Am 21. Juni 2021 würde Erik Neutsch, einer der bekanntesten Schriftsteller der DDR, seinen 90. Geburtstag feiern. Sein Roman «Spur der Steine» wurde 1966 mit Manfred Krug verfilmt. Ein prägendes Motiv in Neutsch’s Werk war das Ringen um eine aufrechte Haltung in widersprüchlicher Zeit. Der Gedanke könnte heute kaum aktueller sein.

Unter dem Titel «WENDEpunkte» sind Texte erwünscht, die den Blick der jungen Generation auf die heutigen gesellschaftlichen Prozesse und Umbrüche und ihre vielfältigen Wendepunkte ermöglichen. Der Preis ist mit insgesamt 6.000 Euro dotiert und wird am 21. Juni 2021 in Berlin verliehen.
 

WENDEpunkte

Wendepunkte verändern das einzelne Leben, entwickeln sich in gesellschaftlichen Fragen, oder sie beschreiben gar Systemwenden, wie sie Neutsch gleich zweifach erlebt hat: mit dem Ende Nazideutschlands in seiner frühen Jugend und später mit dem Mauerfall.

Instabilität und Unsicherheit sind ebenso Aspekte von Wendepunkten, wie eine innere Dynamik, die immer auch das Potenzial birgt, zu etwas Gutem zu werden. Welche Zukunftsvorstellungen verbinden junge Menschen heute mit persönlichen, gesellschaftlichen oder historischen Wendepunkten?

Zeit seines Lebens hat Erik Neutsch die menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen beobachtet und in seinen Werken verarbeitet. Am 21. Juni 2021 würde der Autor von «Spur der Steine» und «Der Friede im Osten» seinen 90. Geburtstag feiern. Aus diesem Anlass schreibt die Erik-Neutsch-Stiftung erneut einen Literaturpreis für junge Autor*innen aus.

Teilnehmen können Autorinnen und Autoren, die das 35. Lebensjahr bis zum Einsendeschluss am 21. Juni 2020 noch nicht vollendet haben. Die Texte sollten maximal 30 Seiten (45.000 Zeichen inkl. Leerzeichen) lang und bislang unveröffentlicht* sein. Der Preis ist mit insgesamt 6.000 Euro dotiert (1. Preis 3.000 Euro, 2. Preis 2.000 Euro, 3. Preis 1.000 Euro) und wird am 21. Juni 2021 in Berlin verliehen.

Eine Auswahl der eingesendeten Texte (nicht nur die ausgezeichneten) soll anschließend in einem Sammelband veröffentlicht werden (Sammelband des vergangenen Wettbewerbs). Die Auswahl der Preisträger*innen trifft eine vom Vorstand der Erik-Neutsch-Stiftung berufene Jury unter Ausschluss des Rechtsweges.

Stiftung

 

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Literarischer Lesesalon 2020

 

 

Die Künstlerkolonie am Breitenbachplatz- erbaut 1927-1929 als soziales Projekt für Kulturschaffende besteht aus drei Häuserblocks rund um den heutigen Ludwig-Barnay-Platz und wurde bereits kurz nach ihrer Fertigstellung zum Wohnort bedeutender Persönlichkeiten des Kulturlebens der Weimarer Republik und bildete ein ganz spezielles Bohemé in Berlin Wilmersdorf welches weltweit Strahlkraft hatte.

Ort: Geschäftsstelle der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Berlin e.V. Laubenheimer Str. 19, 14197 Berlin

 

Anmeldung: GCJZ Berlin, E-Mail: gcjz.berlin@t-online.de / Telefon: 030 – 821 66 83

 

Referenten: Alwin Schütze oder Christian Sekula, Vorstand des Künstlerkolonie Berlin e.V.

 

Eintritt frei

 

Veranstalter: Künstlerkolonie in Berlin e.V. in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Berlin e.V.

 

-> www.kueko-berlin.de, www.gcjz-berlin.de

 


DONNERSTAG, 30. APRIL, 18.30 UHR

Dr. EUGEN OHLISCHLAEGER

 

Schriftsteller, Komponist, Jurist, Kritiker, Journalist,
Drehbuchautor, Liederdichter, Hörspielautor

 

Geboren am 4. November 1898 im Rheinland. Evangelisch. Schrieb mit sechs Jahren das erste Märchen, mit 15 das erste Lied, mit 22 Jahren das erste Chanson für Gerti Kutschera in der “Bonbonniere” von Hans Gruss in München, mit 23 die ersten Satiren für “Jugend” und Simplizieslmus sowie die ersten Gedichte für sein Auftreten bei Kati im “Simpl” und bei “Papa Bonz”, Schwabing, mit 25 die ersten Buchkritiken und Feuilletons für das “Berliner Tageblatt”, mit 28 die erste Hörfolge “Glocken” mit Walter Gronostay„ für W. Blschoff, Breslau und für diesen das erste Hörspiel “Das Wasser steigt”, für Intendant Dr. Flesch die ersten Reportagen des Berliner Rundfunks aus Moabit. Arbeitete während seiner Schulzeit als Bergmann im Kohlenpott. Nahm am Ersten Weltkrieg (Frankreich) teil, Studierte von 1919 bis 1922 Jura in Jena, München  und Würzburg. Promovierte zum Dr. Jur. anschließend Bankbeamter, Kunstseide-Vertreter, Getreidehändler, Pressechef des Hotels Russischer Hof, Berlin, Redakteur der Zeitschriften des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Redakteur der Redaktionen des Verlages Ullstein, Theater-, Film-,und Variete-Kritiker der “B.Z. am Mittag”, der “Berliner Morgenpost” und des “Tempo”. Pressephotograph seit 1918 Gerichtsreporter des RIAS und SFB 1954/56. Reiseleiter Busch-Reisen Berlin-Paris, Schriftsteller, Komponist und Pressephotograph…..

 


DIENSTAG, 12. MAI, 18.30 UHR

DINAH NELKEN

 

Drehbuchautorin und Schriftstellerin

 

Dinah Nelken, eigentl. Bernhardine Ohlenmacher-Nelken, geb. Schneider war eine deutsche Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Dinah Nelken stammt väterlicherseits aus einer alten Berliner Handwerkerfamilie, mütterlicherseits von Hugenotten, die in Berlin sesshaft wurden. Der Vater war Schauspieler. Sie besuchte ein Lyzeum, bildete sich autodidaktisch weiter. In den 1920er Jahren hatte sie ihre ersten Erfolge mit Kurzgeschichten und Feuilletons für die Berliner Presse und Texten für das von ihr mitbegründete politisch-literarische Berliner Kabarett „Die Unmöglichen“. Ende der 1920er Jahre zog sie in die Künstlerkolonie Wilmersdorf und schrieb dort 1932 den Schlüsselroman Eineinhalb Zimmer Wohnung (1932) über eine typische Wohnung in der Künstlerkolonie. 

 


 

DIENSTAG, 11. AUGUST, 18.30 UHR

HELENE JACOBS

 

Widerstandskämpferin

 

Jacobs war im Dritten Reich Sekretärin eines jüdischen Patentanwaltes und seit 1934 Mitglied der Bekennenden Kirche. Sie schloss sich einer Gruppe um den Juristen Franz Herbert Kaufmann an, die seit 1940 half, dass jüdische Verfolgte untertauchen und das Land verlassen konnten. Jacobs versteckte aus christlich-sozialer Motivation heraus einige Menschen in ihrer Wohnung, bis sie 1943 denunziert und anschließend zu Zuchthaus verurteilt wurde. In der Bundesrepublik Deutschland arbeitete Jacobs als Beamtin im Entschädigungsamt in West-Berlin und wurde dort 1963 strafversetzt, weil sie sich zu sehr für die Antragsteller eingesetzt hatte.

Jacobs war seit der Gründung 1949 Mitglied der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Berlin. Sie wurde von der Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt. Sie verstarb 1993 und wurde auf dem Waldfriedhof Dahlem beigesetzt. Ihr Grab ist seit 2004 als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet.

 


 

DIENSTAG, 20. OKTOBER, 18.30 UHR

STEFFIE SPIRA

 

Schauspielerin

 

Steffie Spira war die Tochter des Schauspielerehepaars Lotte und Fritz Spira. 1924 besuchte sie eine Schauspielschule und erhielt 1925 ihr erstes Engagement. 1926 arbeitete sie bei der Gewerkschaft der Schauspieler. Ab 1928 spielte Spira bei der Berliner Volksbühne. 1931 trat sie in die KPD ein und wurde dort Mitbegründerin der Theater-Truppe 1931. Verheiratet war sie seit 1931 mit dem Regisseur Günter Ruschin. 1933 emigrierte sie in die Schweiz. In 14 Jahren Exil erfolgte Theaterarbeit in Paris und dem Kabarett „Die Laterne“ sowie Brecht-Uraufführungen. Nach der Trennung von ihrem Mann wurde sie im Gefängnis in La Roquette und dem Frauenlager Camp de Rieucros inhaftiert, von wo aus die Flucht der Familie nach Mexiko erfolgte. Dort engagierte sie sich unter anderem im Heinrich-Heine-Klub.

1947 kehrte sie auf einem sowjetischen Frachter nach Deutschland zurück und spielte ab 1948 am Deutschen Theater unter Wolfgang Langhoff, vorwiegend in der Volksbühne in vielen großen Rollen (beispielsweise auch die Mutter Wolffen in „Der Biberpelz“ von Gerhart Hauptmann) und am Theater am Schiffbauerdamm. Im ersten Ernst Thälmann-Film Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse (1954, Regie Kurt Maetzig), der das offizielle Geschichtsbild der SED noch kurz vor der Entstalinisierung widerspiegelt, spielt sie die Clara Zetkin.

Am 4. November 1989 hielt sie auf dem Berliner Alexanderplatz während der Alexanderplatz-Demonstration eine Rede vor rund einer halben Million Menschen und sprach sich gegen die Arroganz der Macht und für die Freiheit ihrer Nachkommen aus: „Ich wünsche für meine Urenkel, dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde und dass keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen!“

Steffie Spira starb mit 86 Jahren. Ihre Grabstätte befindet sich auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin. Ihr Sohn Thomas Ruschin arbeitet als Synchronregisseur. Ihre Schwester Camilla Spira war ebenfalls Schauspielerin.


 

DIENSTAG, 24. NOVEMBER, 18.30 UHR

 

Zum 71. Jahrestag der GCJZ Berlin

KNUD CHRISTIAN KNUDSEN

 

Verleger, Bildhauer und Mitbegründer der Berliner Gesellschaft

für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit  

Knud Knudsen gehörte zu der Künstlerkolonie und war der Vormieter in der Geschäftsstelle der GCJZ Berlin, die ebenfalls in der Künstlerkolonie ansässig ist. 1949 wurde er der erste Mitarbeiter und Literarischer Direktordes gegründeten Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und Mitbegründer der Berliner GCJZ.

Knudsen ist Sohn des Theaterwissenschaftlers Hans Knudsen. Er studierte von 1935 bis 1941 an der Berliner Universität Zeitungswissenschaften und Kunstgeschichte bis zur Promotion. Parallel zum Studium machte er eine Ausbildung zum Pressezeichner, sodass er im Zweiten Weltkrieg von 1940 bis 1945 als Kriegszeichner eingesetzt wurde. Sein Christian Verlag hatte zuerst den Sitz in Berlin-Wilmersdorf und zog 1949 nach Bad Nauheim, wo Knudsen künftig hauptsächlich lebte und arbeitete. Er verlegte im Rahmen der Reeducation der westlichen Alliierten zunächst Bücher, in denen die Ansichten der Sieger zu verschiedenen Lebensbereichen dargelegt wurden, sowie Schilderungen der USA und Großbritanniens. 1949 wurde er der erste Mitarbeiter und Literarischer Direktor des gegründeten Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.

In den Folgejahren arbeitete Knudsen als freier Bildhauer, ab 1954 auch in seinem Sommersitz auf Ibiza. Er hielt im In- und Ausland Vorlesungen. Seine Werke stehen oft im Öffentlichen Raum.

Verheiratet war Knudsen mit Doris, geb. Formella, die seinen Verlag bis 1978 weiterführte.

 

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Isolde und Hans Christian Cars‘ „Mauerflieger“ erzählt eine wahre Geschichte

Eine große Liebe, getrennt von der Berliner Mauer

Als Isolde und Hans Christian sich 1965 im Zug nach Budapest begegnen, sind sie sich von Anfang an sympathisch. Aus dieser Zufallsbekanntschaft entwickelt sich über die Zeit wahre Zuneigung und dann Liebe. Selbstverständlich möchten die beiden jungen Studenten ein gemeinsames Leben aufbauen, doch das scheint unmöglich. Sind sie sich in Einstellung, Persönlichkeit und Empfindung sehr nahe, so trennt sie doch leider die Berliner Mauer. Isolde stammt aus Ost-Berlin, Hans Christian aus Schweden. Durch die Augen des damals jungen Paares lassen uns die heute seit langem glücklich Verheirateten die Zeit des kalten Kriegs erleben und erfahren, was man alles zu tun bereit ist, wenn man nur einen festen Willen hat.

Isolde und Hans Christian Cars‘ “Mauerflieger” ist wirklich so passiert

Isolde und Hans Christian Cars „Mauerflieger“ erzählt eine wahre Geschichte. Ich mochte sehr an diesem Tatsachenbericht wie spannend alles war, obwohl man beim Lesen des Klappentextes eigentlich schon wusste wie es ausgeht. Doch zum einen ist die Geschichte dieser Liebe ist aufregend. Zum anderen verfügt das schreibende Paar über Wortwitz und die Fähigkeit, spannend zu erzählen. Mitunter wirkt die Story so unglaublich, dass man nur noch staunen kann.

Sie mussten für ihre Liebe Umwege und Gefahren auf sich nehmen

Unterstützt von Originaldokumenten, schildern Isolde und Hans Christian welche Umwege und Gefahren sie auf sich nehmen mussten, um jenseits des Eisernen Vorhangs heiraten zu können. Was dabei besonders prägnant zu Tage tritt, sind nicht nur die Widrigkeiten, die sich durch die strenge Kontrolle seitens der DDR-Regierung ergaben, sondern ebenso das Misstrauen, das auf der Seite der Bundesrepublik aufkam, als es Isolde über die Grenze schaffte und die deutsche Staatsbürgerschaft beantragte. Die Atmosphäre der Unsicherheit und der Feinseligkeit, die da auf beiden Seiten herrschte, wird von „Mauerflieger“ anschaulich durch die Zeit transportiert und lässt mich umso dankbarer dafür sein, dass Deutschland schon lange nicht mehr geteilt ist.

Spannend wie ein Thriller und romantisch wie eine Lovestory

Geschildert aus beiden Sichtweisen, liest sich dieser Tatsachenbericht sowohl als Thriller, als auch als Liebesroman. Die Angst der beiden, die aufkommt, als sie ihre Flucht angehen, ist genauso fesselnd beschrieben, wie die emotionalen Teile, die sehr berühren. Was ich dabei am beeindruckendsten fand, war wie sehr es der DDR-Regierung anscheinend gelungen war, die Bürger in Unwissenheit zu halten. Isolde schildert sehr glaubwürdig, wie es war, in Ost-Berlin zu leben: Sie machte sich kaum Gedanken über die Mauer – bis sie sie zu überwinden suchte. Hans Christian erzählt die Geschichte aus Sicht der westlichen Seite, die die DDR-Regierung als unmenschlich empfand. Dass alles nicht nur Schwarz und Weiß ist und war, ist wohl die wichtigste Weisheit, die uns diese gelungene Liebesgeschichte schenken kann.

Isolde und Hans Christian Cars

Mauerflieger

ISBN 978-3-426-21456-5

240 Seiten, € 18,00

Knaur

© Buchszene.de

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Ausschreibung zum 4. Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2020

Thema der Ausschreibung:

Saatkorn sein. Zwischen Mühlsteinen

Das Thema bezieht sich auf eine Verszeile aus einem Gedicht von Ulrich Grasnick zu Friedrich Hölderlin. 2020 ist das Jahr, in dem sich am 20. März der Geburtstag des Dichters Hölderlin zum 250. Mal jährt.

Der Preisgeber Ulrich Grasnick ermutigt mit seiner Ausschreibung Autorinnen und Autoren zur Selbstwahrnehmung in unserer heutigen Zeit. Für Grasnick ist der poetische Text ein Produkt reflektierter Wirklichkeit, ein Auf-die-Möglichkeit-Hoffnung-Hinsteuern. Hölderlin schrieb in Patmos: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“. Die Ausschreibung richtet sich an Autorinnen und Autoren ab dem 16. Lebensjahr.

Verfahren:

Erbeten werden zwei selbstverfasste, bislang unveröffentlichte Gedichte in deutscher Sprache. Einzureichen ist jeder Text maschinenschriftlich im Format der üblichen Normseite sowie in 4-facher Ausführung, nebst einem Beiblatt mit den persönlichen Daten (Kurzvita und den Kontaktdaten Postanschrift, Telefonnummer, E-Mail-Adresse). Da im Auswahlverfahren einzig die Textqualität beurteilt wird, sind alle eingesandten Texte zu anonymisieren, das heißt, auf keiner Gedichtseite darf der Name der Autorin bzw. des Autors erscheinen, stattdessen aber ein persönliches Kennwort. Das Kennwort wird auf dem Beiblatt festgehalten.

Die eingereichten Gedichte werden von einer Jury nach dichterischer Eigenständigkeit, Einfallsreichtum, sprachlichem Ausdruck und Bildhaftigkeit der Sprache bewertet. Es werden zwei Preise vergeben. Die Preisträgerinnen bzw. Preisträger erhalten neben einer Urkunde vom Preisstifter ein antiquarisch wertvolles Buch. Die beiden preisgekrönten Gedichte und eine Auswahl weiterer Wettbewerbsbeiträge werden in einer Anthologie des Ulrich-Grasnick-Lyrikpreises 2020 im Quintus-Verlag/Verlag für Berlin-Brandenburg veröffentlicht. Die Zustimmung dazu wird gesondert eingeholt.

Einsendeschluss:

Einsendungen sind bis zum 31. März 2020 auf dem Postweg mit dem Merkwort Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2020 zu senden an: Frau Almut Armélin, Markgrafenstraße 40, 10117 Berlin.

Die Preisverleihung

findet am 25. September 2020 um 19:00 Uhr im Bürgersaal des Kulturzentrums Adlershof Alte Schule, Dörpfeldstr. 54, 12489 Berlin, statt. Sie ist verbunden mit einer öffentlichen Lesung von Autorinnen und Autoren und der Vorstellung der Anthologie „Schritte“ des vergangenen Jahres 2019. Veranstalter ist das Bezirksamt Treptow-Köpenick von Berlin. Der Eintritt ist frei.

Zum Preisstifter:

Ulrich Grasnick, geb. 1938 in Pirna, Lyriker, Mitglied im Verband Deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (ver.di VS Berlin). Er leitet seit vielen Jahren das Köpenicker Lyrikseminar und die Lesebühne der Kulturen Adlershof mit Sitz im Kulturzentrum Adlershof Alte Schule.Zu seinen aktuellen Veröffentlichungen gehören „Fermate der Hoffnung. Hommage an Marc Chagall. Gedichte Deutsch/Russisch“ 2018 und „Auf der Suche nach deinem Gesicht. Gedichte zu Johannes Bobrowski“ (2018). Grasnick ist Herausgeber der Anthologien zum seit 2017 jährlich ausgeschriebenen Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis: „Wenn wir den Atem anhalten“ (2017), „Im Auge des Dichters“ (2018) und „Schritte“ (2019). ulrich-grasnick.de

Weitere Informationen:
www.berlin.de/bildung-t-k