Erschwinglichen Wohnraum in der Stadt Berlin – das bietet die ehemalige Künstlerkolonie Wilmersdorf seit Jahrzehnten. Jetzt wird die Siedlung saniert. Das gefällt nicht allen.
Die deutsche Hauptstadt hat schier unendlich viele Sehenswürdigkeiten, von denen manche in kaum einem Reiseführer stehen. Das gilt zum Beispiel für die Wohnanlage, die sich am Ludwig-Barnay-Platz, im westlichen Stadtteil Wilmersdorf, befindet: drei grosse Blöcke im Stil der späten zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit schlichten Fassaden und grosszügigen Innenhöfen, wobei sich laut der Kunsthistorikerin Bettina Held «behaglich-konservative Gestaltungsmittel mit sparsam verwendeten expressionistischen Akzenten» mischen.
Vorbild für heutige Probleme
Architektonisch mag es in Berlin beeindruckendere Anlagen aus dieser Bauzeit geben, etwa die berühmte Hufeisensiedlung von Bruno Taut. Dafür ist die Künstlerkolonie, wie das Ensemble in Wilmersdorf heisst, von überragender geistesgeschichtlicher Bedeutung: In den späten zwanziger und frühen dreissiger Jahren wohnten hier zahlreiche Persönlichkeiten des künstlerischen und intellektuellen Lebens: der Philosoph Ernst Bloch, der Sänger und Schauspieler Ernst Busch, der Lyriker Peter Huchel, die Schauspielerin Steffie Spira, der Dramatiker Walter Hasenclever, der Schriftsteller Arthur Koestler oder auch der spätere Ostexperte Wolfgang Leonhard.
Diese Ballung berühmter Namen ist kein Zufall. Denn die Künstlerkolonie wurde zwischen 1927 und 1931 mit dem Ziel errichtet, in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Kulturschaffenden ein angenehmes Wohnen zu ermöglichen. Initiiert wurde der Bau von der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) und dem Schutzverband deutscher Schriftsteller, die zu diesem Zweck eine gemeinnützige Siedlungsgesellschaft gründeten. Die Künstlerkolonie, sagte GDBA-Präsident Gustav Rickelt bei der Grundsteinlegung im April 1927, habe die Bestimmung, den Intellektuellen und Künstlern «erschwingliche, dem Lärm der Weltstadt entzogene Heime zu schaffen, die durch einfache, schöne Ausführung mit dem Kulturbedürfnis ihrer Bewohner übereinstimmen».
Mit diesem Ansatz, günstigen und doch hochwertigen Wohnraum zu schaffen, reiht sich die Künstlerkolonie in die zahlreichen Wohnungsbauprojekte ein, mit denen die Weimarer Republik die nach dem Ersten Weltkrieg grassierende Wohnungsnot bekämpfte. Ermöglicht wurde das gigantische Bauprogramm durch die 1924 eingeführte Hauszinssteuer. Diese mussten Liegenschaftseigentümer entrichten, die durch die Inflation von ihren Schulden befreit worden waren. Daran könnte man sich doch heute, angesichts einer sich zuspitzenden Knappheit an günstigen Wohnungen in deutschen Städten, wieder orientieren, findet Alwin Schütze. Er ist Vorsitzender des Vereins Künstlerkolonie Berlin, der sich die Aufarbeitung der Geschichte der Wohnanlage zum Ziel gesetzt hat. «Die Entstehungsgeschichte der Siedlung könnte in vielerlei Hinsicht Vorbild sein», sagt Schütze.
Schleichender Wandel
Allerdings hat sich der soziale Anspruch im Laufe der Jahrzehnte gewandelt. Denn in den fünfziger Jahren musste sich die Siedlungsgesellschaft von der Künstlerkolonie trennen. Diese wechselte in der Folge mehrfach den Eigentümer und gehört heute zur Vonovia, dem grössten deutschen Wohnungsunternehmen, das 370 000 Wohnungen besitzt und im Aktienindex DAX der 30 wichtigsten deutschen Konzerne kotiert ist. Nach eigenen Angaben ist sich die Vonovia der historischen Bedeutung der Siedlung durchaus bewusst. «Wir achten darauf, dass die Idee der Künstlersiedlung in Form von vielfältigen kulturellen Veranstaltungen fortlebt», sagt Vonovia-Vorstandsmitglied Klaus Freiberg. Trotzdem ändert sich derzeit der Charakter des Ensembles, da die Vonovia die Wohnhäuser seit einiger Zeit saniert.
In einem der drei denkmalgeschützten Blöcke am Ludwig-Barnay-Platz sind bereits die Fassaden überarbeitet und die Dächer erneuert worden; die beiden anderen Blöcke sollen laut Vonovia-Sprecherin Bettina Benner in den kommenden Jahren denkmalgerecht saniert werden. Gleichzeitig erneuert der Wohnungskonzern immer dann, wenn ein Mieter auszieht, das Badezimmer und die Elektrik in der jeweiligen Wohnung. Das aber, sagt Alwin Schütze mit Bedauern, führe zu steigenden Mieten und dazu, dass Künstlerinnen und Künstler mit geringem Einkommen sich die Wohnungen nicht mehr leisten könnten.
Immerhin hat sich über alle Eigentümerwechsel hinweg die Regelung erhalten, dass die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger das Belegungsrecht für die Wohnungen hat. «Wir wollen das Milieu in der Siedlung erhalten und den Zuzug von Künstlern und Schauspielern unterstützen», sagt Vonovia-Sprecherin Benner. Innerhalb von vier Wochen nach Kündigung einer Wohnung kann die GDBA einen Mieter benennen; erst wenn das nicht passiert, wird die Wohnung anderen Interessenten angeboten. Laut Vonovia sind immer noch etwa 60 Prozent der Mieter in der Kunst- und Kreativszene verwurzelt.
Attraktiv sind die Wohnungen heute auch deswegen, weil sie für die Verhältnisse der Zwischenkriegszeit recht grosszügig bemessen waren. Unter den insgesamt rund 550 Wohnungen in den von den Architekten Ernst und Günther Paulus geplanten denkmalgeschützten Gebäuden gibt es nämlich nicht nur die für die Weimarer Republik typischen Zweieinhalbzimmerwohnungen, sondern auch Einheiten mit dreieinhalb und viereinhalb Zimmern. Nicht selten, erzählt der Vereinsvorsitzende Schütze, habe im sogenannten halben Zimmer ein Dienstmädchen gehaust – etwas, was man sonst von den grossbürgerlichen Wohnungen aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kennt. Mehr noch: Ein zeitgenössischer Bericht vermeldet bewundernd, dass «die Ausstattungen der einzelnen Wohnungen allen neuzeitlichen Komfort zeigen und Licht und Luft überall hindringen».
Auf den Spuren der Geschichte
In eklatantem Widerspruch zu diesem relativen Luxus stehen Zeugnisse der frühen Bewohner. «In den meisten Behausungen lag nur eine Matratze am Boden», erinnert sich Gustav Regler in seinem autobiografischen Roman «Das Ohr des Malchus». «Die Künstler assen von Seifenkisten, über die sie Zeitungen gebreitet hatten.» Regler entwirft das Bild einer solidarischen Gemeinschaft: «Man half sich gegenseitig und wanderte von Wohnung zu Wohnung, man roch, wo einer Arbeit hatte und etwas Speck und Käse zu finden war.» Ganz anders die Erinnerungen des Journalisten Walter Zadek: «Wir haben mit den Menschen in der Künstlerkolonie eigentlich nicht verkehrt», meinte der Onkel des Regisseurs Peter Zadek Jahrzehnte nach seiner Zeit am Ludwig-Barnay-Platz rückblickend. Ähnlich widersprüchlich sind die Aussagen über die politische Ausrichtung der frühen Bewohner. In vielen Berichten findet sich der Begriff des «Roten Blocks», der den Eindruck einer einheitlich linken Gesinnung vermittelt. Der kommunistische Schriftsteller Alfred Kantorowicz, der ab 1931 in der Kreuznacher Strasse 48 wohnte, gab später an, mindestens 400 der insgesamt etwa 1000 Bewohner hätten dem «Schutzbund Künstlerkolonie» angehört, der sich gegen Übergriffe nationalsozialistischer Stosstrupps gewehrt habe. Alwin Schütze vom Verein der Künstlerkolonie hingegen sieht die Sache nach Auswertung zahlreicher Dokumente, die der Verein gesammelt hat, differenzierter: Es habe zwar eine tendenziell linke Gesinnung in der Siedlung geherrscht; Kommunisten seien aber längst nicht alle Bewohner gewesen. Schütze stellt deshalb auch das Schlagwort vom «Roten Block» infrage und verwendet dafür lieber den in der zeitgenössischen Literatur ebenfalls vorkommenden Begriff der «Hungerburg».
Ob Roter Block oder Hungerburg – was noch aussteht, ist eine gründliche, professionelle Aufarbeitung der Geschichte der bemerkenswerten Wohnanlage. Einen Beitrag dazu will der rührige Verein leisten: Auch wenn die Finanzierung noch nicht gesichert ist, plant er die Herausgabe eines Taschenbuchs über die Historie der Künstlerkolonie und später eine dreibändige Gesamtübersicht.