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Les Milles: Vom Internierungslager zur Gedenkstätte

Auf den Spuren Lion Feuchtwangers in Südfrankreich

Text und Fotos: Rainer Heubeck

Der weltweit geschätzte Schriftsteller Lion Feuchtwanger war 55 Jahre alt, als er das zweite Mal in das Gefangenenlager Les Milles bei Aix en Provence eingeliefert wurde. Am 21. Mai 1940 um 5:02 Uhr betrat er das Lager – und erhielt dort die Nummer 187 zugeteilt. Lion Feuchtwanger verstand die Welt nicht so recht – angeblich sollte in dem Konzentrationslager eine „Siebung“ durchgeführt werden, um festzustellen, wer mit Nazideutschland sympathisiert und wer nicht. Doch dass Feuchtwanger als oppositioneller Schriftsteller aus Gegnerschaft zu den Nazis nach Frankreich emigriert war, das wussten eigentlich auch die französischen Behörden. „Die Internierung so vieler Leute, die sich einwandfrei als erbitterte Gegner der Nazis erwiesen hatten, war eine dumme, ärgerliche Komödie“, schrieb Feuchtwanger später.

Südfrankreich - Les Milles
© Rainer Heubeck

 

All das ist lange her – und doch hat es bis zum Jahr 2012 gedauert, bis das Camp des Milles, eine ehemalige Ziegelei, die von 1939 bis 1942 zuerst zum Gefangenen- und später zum Deportationslager wurde, offiziell zur Gedenkstätte erklärt und ausgebaut wurde. Kurz nach der Eröffnung, im Jahr 2013, waren Aktivitäten in der Gedenkstätte ein wichtiger Bestandteil des Programms der europäischen Kulturhauptstadt bzw. Kulturregion Marseille-Provence.

 

Südfrankreich - Les Milles - Deportationswaggon
© Rainer Heubeck

 

Mit Kultur sowie mit Unkultur hat die Geschichte des Lagers in der Tat zu tun – zahlreiche Künstler und Intellektuelle, darunter Schriftsteller, Maler, Juristen und Medizinnobelpreisträger, waren dort zeitweise gefangen. „Wir waren, die politischen Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei, die in Südostfrankreich wohnten, während des Krieges von den französischen Behörden eingesperrt worden in der großen verlassenen Ziegelei von Les Milles bei Aix in der Provence. Wir waren unser über tausend, einmal waren wir beinahe dreitausend, die Ziffer wechselte, ein großer Teil von uns waren Juden“, schrieb Lion Feuchtwanger, nachdem ihm später die Flucht in die USA gelungen war. „Ziegelstaub füllte unsere Lungen, entzündete unsere Augen“, berichtet Feuchtwanger in seinem in den USA verfassten Buch „Der Teufel in Frankreich.“ Professoren, Anwälte und Ärzte, so schildert er, seien in dem Lager interniert gewesen und hatten dort Ziegelstapel angelegt, die sie am nächsten Tag wieder abtragen mussten. „Die Arbeit war nicht eben schwer. Das Ärgerliche, Empörende daran war ihre vollkommene Sinnlosigkeit“, berichtete Feuchtwanger.

 

Südfrankreich - Les Milles - Feuchtwanger „Der Teufel in Frankreich.“

 

Der in München geborene Schriftsteller war nicht der einzige Intellektuelle aus Deutschland, der beengt im Strohlager in der staubigen Ziegelei seine Nächte verbringen musste. Auch der Maler Max Ernst, Oswald Hafenrichter und Max Bellmer, die Schriftsteller Walter Hasenclever, der sich im Lager schließlich das Leben nahm, Alfred Kantorowicz, Friedrich Wolf, Franz Hessel und Golo Mann, der als Kriegsfreiwilliger nach Frankreich gegangen war, um gegen die Deutschen zu kämpfen, und viele andere wurden in das Lager eingesperrt.

Die Ziegelei, so berichtet Odile Boyer, die Geschäftsführerin der Les Milles-Gedenkstätte, sei in den 30er Jahren stillgelegt worden, weil sie nach der Wirtschaftskrise von 1929 in Schwierigkeiten geraten war. Les Milles, so Boyer, ist das einzige noch erhaltene und zugängliche französische Internierungs- und Deportierungslager aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die im September 2012 eröffnete Gedenk-, Kultur- und Bildungsstätte, die sich als Erinnerungsstätte gegen das Vergessen versteht, soll insbesondere jungen Leuten vermitteln, wie es zu einem Genozid kommen kann – aus diesem Grund befasst sich die Ausstellung nicht nur mit historischen, sondern auch mit aktuellen Beispielen.

 

Südfrankreich - Les Milles - Ausstellung
© Rainer Heubeck

 

Die Geschichte des Lagers gliedert sich in drei Epochen – von September 1939 bis Juni 1940 waren in dem Camp, das unter französischer Militärhoheit stand, vor allem Deutsche interniert, die in die unbesetzten Gebiete Frankreich emigriert waren, darunter zahlreiche Intellektuelle und Künstler. Von Juni 1940 bis Juni 1942 in der Zeit des Vichy-Regimes wurde das Lager von der französischen Polizei geführt, diese internierte hier vor allem Regimegegner und Ausreisewillige. Darunter auch der Ungar Laszlo Radvanyi, der Mann der deutschen Schriftstellerin Anna Seghers. Er verbrachte das Jahr 1940 im Lager Vernet Ariege am Rande der Pyrenäen. Anschließend wurde er nach Les Milles verlegt, wo er mehrere Monate interniert war.

 

Südfrankreich - Les Milles
© Rainer Heubeck

 

Von August 1942 bis zum 10. September, noch bevor die Deutschen auch diesen Bereich Frankreich besetzt hatten, begann das traurigste Kapitel des Lagers. In dieser Zeit wurden in Les Milles vor allem Juden interniert, die kurz darauf über Drancy bei Paris in die NS-Vernichtungslager deportiert worden sind. Unter ihnen auch zahlreiche jüdische Frauen und Kinder aus Marseille. Siebzig Jahre, nachdem der letzte Deportationszug in Les Milles abgefahren war, wurde endlich die Gedenkstätte eröffnet. „Wir haben 29 Jahre daran gearbeitet, die ehemalige Ziegelei in eine Gedenkstätte umzuwandeln.1983, als wir anfingen, kämpften wir vor allem mit ideologischen Vorbehalten, in den letzten zehn Jahren waren es vor allem praktische und finanzielle Schwierigkeiten, denen wir uns stellen mussten“, berichtet der Soziologe Alain Chouraqui, der das Gedenkstättenprojekt mit initiiert hat. Insgesamt 10.000 Menschen, so Odile Boyer, waren zwischen 1939 bis 1942 in der ehemaligen Ziegelfabrik interniert, rund 2000 Juden wurden von ihr aus in den fast sicheren Tod geschickt.

 

Südfrankreich - Les Milles
© Rainer Heubeck

 

In der Gedenkstätte Les Milles finden sich zahlreiche Informationstafeln, auch die früheren Schlafräume der Internierten können besichtigt werden. Den Gefangenen gelang es in der Zeit von 1939 bis 1940, als das Lager noch kein Deportationslager war, im Lager eine Art kulturelles Leben aufrecht zu erhalten, sie spielten Theater, malten Fresken und Karikaturen. An den Wänden verschiedener Räume sind noch Überreste davon erhalten. Eine Reihe von Bildern wurde von den Häftlingen sogar im Auftrag der Lagerverwaltung erstellt – diese wollte sich ihren Wachraum mit karikaturähnlichen Wandmalereien ausschmücken lassen.

In dieser Lagerphase war Les Milles zwar ein Internierungslager, in dem die sanitären Verhältnisse zum Teil unzumutbar war. Es war jedoch kein Lager, in dem Menschen gequält und geschunden wurden. Feuchtwanger schrieb später, er habe in Les Milles nie etwas erlebt, „das man als Grausamkeit oder auch nur als schlechte Behandlung hätte bezeichnen können. Niemals wurde geschlagen oder gestoßen oder auch nur geschimpft.“ Feuchtwanger beklagte hingegen eine Mischung aus Schematismus und Schlamperei, aus Gedankenlosigkeit und Herzensträgheit, aus Konvention und Routine.

Südfrankreich - Les Milles - Wachraum mit karikaturähnlichen Wandmalereien
© Rainer Heubeck

 

Wer verstehen will, wie der Alltag im Lager damals war, der findet diesen in Feuchtwangers Buch „Der Teufel in Frankreich“ ausführlich dargestellt. Feuchtwanger schreibt von Nächten, in denen an Schlaf kaum zu denken war, vom „Gegrunze, Gestöhne, Gegähne und Gerülpse“ am Morgen, vom Wettlauf um den Platz an der Latrine und am Wassertrog – und von bis zu 100 Menschen, die in der Schlange standen, um die Toiletten benutzen zu können. „Es gab kein Wasser, man konnte sich vor dem Kot nicht retten und nicht von den dicken Schwärmen von Fliegen“, erinnerte sich Feuchtwanger.

 

Südfrankreich - Les Milles - Gedenkstätte
© Rainer Heubeck

 

Wer die Region Marseille-Provence besucht, für den bietet es sich an, auch die Gedenkstätte „Les Milles“ zu besuchen. Sie ist ein Mahnmal dafür, dass Kultur und Zivilisation keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern stets brüchig und bedroht sind. Dies zeigt die Ausstellung in der Gedenkstätte eindrucksvoll am Beispiel der Genozide an den Armeniern, den Juden, den Sinti und Roma und an den Tutsis in Ruanda. Les Milles soll künftig auch regelmäßig zum Veranstaltungsort werden. „Die kulturelle Auseinandersetzung mit dem Thema ist für uns ein zusätzlicher Ansatz, neben dem rationalen und dem wissenschaftlichen“, erläutert der Soziologe Alain Chouraqui. Wichtig ist ihm dabei, die Gedenkstätte nicht als Kulisse für beliebige Events zu nutzen, sondern Veranstaltungen anzubieten, die helfen, die Mechanismen, die zu Gewalt und Genozid führen, besser zu verstehen.

 

Reiseinformationen zu Les Milles

Kontakt

Site-Mémorial du Camp des Milles, 40, chemin de la Badesse, CS 50642 13547 Aix-en-Provence Cedex 4, Tel. +33 442391711, Fax +33 442243468, www.campdesmilles.org

Literaturtipp

Gausmann, Angelika: Deutschsprachige Bildende Künstler im Internierungs- und Deportationslager Les Milles von 1939 bis 1942. Verlag: Möllmann, Ch, ISBN: 978-3-931156-17-6, 33,00 Euro

Weitere Infos

Tourismusbüro Bouches-du-Rhône : www.visitprovence.com

Französische Zentrale für Tourismus: http://de.rendezvousenfrance.com/

 

Reisemagazin schwarzaufweiss


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Damals war’s……Sanary-Sur-Mer

Sanary wurde im Jahr 1035 als San Nazari gegründet. Der ursprüngliche, provenzalische Name wurde 1890 in Sanary-sur-Mer geändert.

Im 12. Jahrhundert gab es an dem heutigen Hafen einen Konvent der Abtei Saint-Victor in Marseille, der dem Heiligen Saint Nazaire gewidmet war. Ende des 13. Jahrhunderts wurde der unter dem heutigen Namen bekannte „Tour Romane“, der als Wehrturm diente, gebaut. 1436 errichtete König René I. eine kleine Garnison, auf dessen Turm es, als Zeichen des königlichen Privilegs, ein Taubenhaus gab. Heute ist der Turm in eine Gruppe von Gebäuden, dem „Hotel de la Tour“, integriert, das während der Herrschaft der Nationalsozialisten deutsche Emigranten beherbergte. Seit 1990 befindet sich in den Gebäuden das Museum Frédéric Dumas.

 

 

Schon 1907 hatte der Dichter André Salmon die Provence und die Küste zwischen Marseille und Toulon entdeckt und sich in Sanary niedergelassen. Dazu gesellte sich der mit dem Ehepaar Salmon befreundete Maler Moise Kisling. Der Maler Rudolf Levy verbrachte die Sommermonate in Sanary-sur-Mer. Er schätzte vor allem die Schlichtheit der Bewohner und die herrliche Landschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich viele Maler und Schriftsteller aus ganz Europa hier und in der Nähe angesiedelt, unter ihnen Aldous Huxley und Julius Meier-Graefe mit seiner Partnerin Anne-Marie Epstein, die die ersten deutschen Emigranten empfingen.

 
 
1987 gestiftete Gedenktafel für die deutschen und österreichischen Flüchtlinge

 

In den Jahren nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland hielten sich in der kleinen Stadt am Mittelmeer viele deutsche Emigranten auf. Die Stadt gilt seither als wichtiges Exilzentrum. Zu den berühmtesten Exilanten zählten

Bertolt Brecht, Ferdinand Bruckner, Franz Theodor Csokor, Albert Drach, Lion und Marta Feuchtwanger, Bruno Frank, Walter Hasenclever, Franz und Helen Hessel, Alfred Kantorowicz, Hermann Kesten, Egon Erwin Kisch, Arthur Koestler, Annette Kolb, die Brüder Golo und Klaus Mann, ihre Eltern Katja und Thomas Mann und dessen Bruder Heinrich Mann, Ludwig Marcuse, Erwin Piscator, Anton Räderscheidt, Joseph Roth, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Friedrich Wolf, Arnold Zweig und Stefan Zweig.

Während des Zweiten Weltkrieges war Sanary auch Aufenthaltsort von Jacques-Yves Cousteau, neben Émile Gagnan Miterfinder des modernen Atemreglers. Er besaß dort ein «Villa Baobab» genanntes Haus, wo er seine Erfindung vor dem Zugriff der deutschen Besatzer schützen konnte. 1943 wurden die ersten Tauchversuche gemeinsam mit Philippe Tailliez in Bandol durchgeführt. Später bildeten diese beiden Tauchpioniere zusammen mit Frédéric Dumas, der seit seiner Kindheit in Sanary wohnte, ein bekanntes Trio mit dem Spitznamen Les Trois Mousquemers. Dumas erfand viele Tauchgerätschaften (Unterwasserharpune, Tauchmaske, Tarierweste etc.)

Weiterführende Literatur

 

  • Manfred Flügge: Wider Willen im Paradies. Deutsche Schriftsteller im Exil in Sanary-sur-Mer (= Aufbau-Taschenbücher 8024). Aufbau-Taschenbuch-Verlag, Berlin 1996, ISBN 3-7466-8024-7.
  • Manfred Flügge: Das flüchtige Paradies: Künstler an der Côte d’Azur. Aufbau-Taschenbuch-Verlag, Berlin 2008, ISBN 3-7466-8160-X
  • Gerd Koch (Hrsg.): Literarisches Leben, Exil und Nationalsozialismus. Berlin – Antwerpen – Sanary-sur-Mer – Lippoldsberg (= Wissen & Praxis. Bd. 64). Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-86099-264-3.
  • Martin Mauthner: German Writers in French Exile. 1933–1940. Vallentine Mitchell, London u. a. 2007, ISBN 978-0-85303-540-4.
  • Magali Laure Nieradka: Die Hauptstadt der deutschen Literatur“. Sanary-sur-Mer als Ort des Exils deutschsprachiger Schriftsteller (= Formen der Erinnerung. Bd. 44). V & R Unipress, Göttingen 2010, ISBN 978-3-89971-792-1(Zugleich: Dissertation (Universität Heidelberg) 2009).
  • Pierre-Paul Sagave: Sanary, Hauptstadt der deutschen Literatur im Exil (1933-1940). Bericht eines Zeitzeugen, in: Markus Behmer (Hrsg.): Deutsche Publizistik im Exil 1933 bis 1945 : Personen, Positionen, Perspektiven ; Festschrift für Ursula E. Koch. Münster : Lit, 2000, S. 58–71
  • Ville de Sanary sur Mer (Hrsg.): Sur les pas des Allemands et des Autrichiens en exil à Sanary, 1933–1945. Ville de Sanary-sur-Mer, Sanary 2004, ISBN 2-9506150-2-3 (Dreisprachig: französisch – deutsch – englisch. Gute Zusammenfassung und Kurzporträts vieler auch weniger bekannter Exilanten in der Region).
  • Ulrike Voswinckel, Frank Berninger: Exil am Mittelmeer. Deutsche Schriftsteller in Südfrankreich von 1933–1941. Allitera–Verlag, München 2005, ISBN 3-86520-113-X.
  • Heinke Wunderlich, Stefanie Menke: Sanary-sur-Mer. Deutsche Literatur im Exil (= Heinrich-Heine-Institut. Archiv, Bibliothek, Museum. Bd. 5). Unter Mitarbeit von Gisela Klemt, Thomas Lambertz und Heidemarie Vahl. Metzler, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-476-01440-1.
 

© Wikipedia


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24 denkmalgeschützte Litfaßsäulen in Berlin

Das Landesdenkmalamt Berlin hat die in Berlin bisher vorhandenen 2.548 Litfaßsäulen auf ihren Denkmalwert überprüft: „24 dieser Säulen genießen Denkmalschutz und bleiben als Zeugnisse der Berliner Stadtgeschichte an Ort und Stelle erhalten“, teilt Landeskonservator Dr. Christoph Rauhut mit. Hintergrund für die aufwändige Recherchearbeit war die Neuordnung des Werbemarktes in Berlin.

Die denkmalwerten Litfaßsäulen stehen in den Bezirken Charlottenburg-Wilmersdorf (6), Kreuzberg-Friedrichshain (5), Mitte (4), Pankow (3), Reinickendorf (3), Steglitz-Zehlendorf (2) und Treptow-Köpenick (1). Sie sind Teil von Denkmalbereichen, etwa Siedlungen und Wohnprojekten wie an der Karl-Marx-Allee oder der Reichsbanksiedlung Schmargendorf, oder Gartendenkmalen wie dem Mexikoplatz.

Findet man vom Anfang des Jahrhunderts noch vereinzelte Blechsäulen, wurden die Säulen schon vor dem 2. Weltkrieg aus Beton hergestellt. Manchmal handelt es sich um ehemalige Transformatorensäulen, die umgestaltet und auch versetzt wurden. Das Herstellungsdatum lässt sich meist nur annähernd schätzen, da es keine Bauunterlagen dazu gibt. Die älteste der denkmalgeschützten Litfaßsäulen ist vermutlich die am Hackeschen Markt (Blechsäule, um 1900). Die jüngste datiert von 1987 und gehört als historisierender Nachbau zur Ausstattung des zeitgleichen Nikolaiviertels in Berlin-Mitte.

 


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Projekt “Mapping the Lives” In diesen Berliner Häusern wohnten die Opfer der Nazis

Roderick Miller wollte wissen, ob in seinem Haus in Neukölln Verfolgte des Nazi-Terrors wohnten. Die Recherche ließ ihn nicht mehr los. Mit dem Projekt “Mapping the Lives” hat Miller fast allen Opfern der Nazis im Dritten Reich einen digitalen Stolperstein gelegt.

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“Der Junge hat im selben Haus gewohnt. Er ist jeden Tag durch denselben Flur gegangen, hat denselben Boden und dieselbe Haustür gesehen. Das ist schon ein merkwürdiges Gefühl”. Roderick Miller steht vor seinem Haus in der Hobrechtstraße in Berlin. In der Hand hält er ein Foto von dem Jungen, der im dritten Reich im selben Haus gewohnt hat, wie Miller jetzt.

Gert Kahan, 1925 geboren, verfolgt, weil er Jude war. Als er 15 Jahre alt war, wurde sein Vater in Dachau ermordet. Seine Mutter wurde über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert. Gert schaffte es, 1941 mit 16 Jahren nach Palästina zu fliehen. Später emigrierte er nach Kanada.

Ein Foto von Gert Kahan, der von den Nazis verfolgt wurde und 1942 nach Palästina und dann Kanada floh. (Quelle: rbb)
Gert Kahan war 16 als er vor den Nazis fliehen musste. Seine Eltern wurden im KZ umgebracht. | Bild: rbb

Miller hat diese Informationen aus Gedenkbüchern und Daten aus dem Bundesarchiv zusammengetragen. Nicht nur für sein Haus, sondern für fast jedes in Berlin und ganz Deutschland. Auf der digitalen Stadtkarte “Mapping the Lives” [mappingthelives.org] hat er die jüdischen Schicksale mit schwarzen Punkten markiert. So kann jeder recherchieren, wer in seinem Haus oder der Nachbarschaft gewohnt hat.

“Als ich 2004 nach Berlin kam, habe ich die Stolpersteine bemerkt und ich wollte auch wissen, wer in meinem Haus gewohnt hat”, sagt Miller. Die Suche war nicht leicht. Miller konnte nicht einfach nach der Adresse suchen, sondern musste das Berliner Gedenkbuch mit zehntausenden Namen durchgehen. So entstand die Idee für das Projekt Mapping the Lives, die digitalen Stolpersteine. 

Portrait-Aufnahme von Roderick Miller, der das Projekt "Mapping the Lives" leitet. (Quelle: rbb)
Roderick Miller hat das Projekt “Mapping the Lives” gegründet. | Bild: rbb

“Wir wohnen in denselben Häusern, das schafft eine Verbindung”

“Ich wollte, dass es leicht möglich ist, zu sehen, wer in welcher Straße gewohnt hat”, sagt Miller. Viele wüssten nicht über das Ausmaß der Verfolgung Bescheid. “Aus fast jedem zweiten Haus wurde jemand vertrieben”, sagt Miller. “Ich finde es wichtig, dass die Menschen, die heute hier wohnen, das verstehen. Wir wohnen in den gleichen Häusern wie damals, das schafft eine Verbindung, das vergisst man nicht.”

Hinter jedem schwarzen Punkt stecken Lebensgeschichten

Auf dem Ausschnitt einer Stadtkarte sind die von den Nazis im dritten Reich verfolgten Opfer eingetragen. (Quelle: rbb)
Hinter den schwarzen Punkten sind Biografien und Fotos hinterlegt. | Bild: rbb

Daten basieren auf Volkszählung von 1939

Auf der Karte, die es auch als App geben soll, sind nicht nur Verfolgte jüdischen Glaubens vermerkt. Miller und seine Kollegen des gemeinnützugen Vereins “Tracing the Past” wollen alle bekannten Opfer des NS-Regimes, die aufgrund ihrer Nationalität, Religion, politischer Überzeugung, sexueller Orientierung, sozialer Ausrichtung, körperlicher oder geistiger Behinderung oder als Widerstandskämpfer verfolgt wurden, dokumentieren. So wollen sie die zwischen 1933 und 1945 existierenden Wohngegenden in ganz Europa nachbilden. Die Arbeit am Projekt wird durch Spenden finanziert.

Die Daten für Deutschland basieren auf der durch Hitler angeordneten Volkszählung von 1939, ergänzt durch Informationen aus dem Bundesarchiv. “Fast alle Akten sind von Nazi-Behörden erstellt worden”, sagt Miller, damit müsse man vorsichtig umgehen. Auf Todesurkunden aus Konzentrationslagern stünde beispielsweise “Herzschwäche”, obwohl die Opfer ermordet wurden. Die Ergebnisse aus der Volkszählung seien allerdings fast die einzige Möglichkeit um die Adressen zu recherchieren.

Sendung: Abendschau, 12.07.2019, 19:30 Uhr

© RBB


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Die Frau mit der Leica – Eva Kemlein (1909 – 2004)

Ein Leben mit nicht nur künstlerischem Horizont unter geteiltem Himmel. Hätte man vor 20 Jahren ihren Namen erwähnt: Die beinahe-Ehrenbürgerin von Berlin, DIE Fotografin des (Ost-)Berliner Theaterlebens mit Wurzeln & Wohnort im Berliner Westen, sie wäre wohl einem jeden Kunst-Interessierten sofort ein Begriff gewesen.

13 Jahre sind seit ihrem Tod vergangen und nun gedachte das Centrum Judaicum ihr mit einer Ausstellung von 60 ausgewählten Werken aus ihrem 5550 x größerem Werk, einer Hinterlassenschaft von 333000 Negativen aus ihrem Fotografenleben von x + 60 Jahren.

Das „X“: Eva Kemlein, die kleine (nur 1,50 Meter große) Frau mit der großen Hinterlassenschaft, wurde geboren als Eva Ernestine Graupe im vornehmen Charlottenburg, in einer 6,5-Zimmer-Wohnung mit bezahlter Dienerschaft. Ihr bereits 1933 verstorbener Vater, jüdischer Getreidehändler & Bankier, förderte nicht nur Waisen- & Armenhäuser, sondern auch die einzige Tochter mit liberaler Güte und Strenge.

Ihr erster Ehemann, Herbert Kemlein, linker Journalist und Tausendsassa: Mit ihm emigrierte sie nach der Heirat 1933 per Motorroller nach Griechenland. Reisereportagen mit ersten beruflichen Fotos aus ihrer Leica & seinen Texten, dennoch Scheidung wg. Auseinanderlebens, „Mischehe“ & „Rassenschande“; Ausweisung aus Griechenland 1937 und Rückkehr nach Berlin.

Zusammenleben mit der Mutter in einer kleinen Wohnung in Wilmersdorf, Gelegenheitsarbeiten als Fotografin und mit zunehmender Judenverfolgung stets prekärer werdende Zwangsarbeiten (Löten bei Siemens, Lumpen sortieren).

Ein Lichtblick in der dunklen Zeit: Werner Stein, Jahrgang 1888, 21 Jahre älter als sie. 1939 lernte sie ihn kennen und lieben. Wie sie jüdischer Herkunft; Schauspieler & Herzens-Kommunist. Er wird ihr Vorbild im Hoffen auf ein besseres Morgen: Denn das Heute, das war im Berlin unter dem Hakenkreuz die Hölle: Mehr als ein Jahr nachdem die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen war, hätte es um ein Haar auch sie getroffen: Doch als die SS ihre Mutter am 13.08.1942 holte (und 5 Tage später im KZ Riga ermordete) war sie gerade nicht zuhause und kehrte – gewarnt von ihrem Onkel – auch nicht mehr dorthin zurück.

Was folgte, war die Odyssee der Illegalität: Leben mit falschen Pass („Else Koch“) in permanenter Angst des Entdecktwerdens; aber auch: Leben durch die Solidarität von Menschen, die sie unter eigener Lebensgefahr versteckten. Immer dabei: Die Leica. Fotos entstanden in dieser Zeit keine (?).

Die Kontakte „ihres Steins“ – wie sie den Mann an ihrer Seite liebevoll nannte – waren es auch, die im Mai 1945 dazu führten, dass es zu einer lebenswendenden Begegnung kam: Zwei ihr bislang unbekannte Männer –Fritz Erpenbeck, Mitglied der Gruppe Ulbricht & Rudolf Herrnstadt – kamen in die soeben frisch bezogene Wohnung in der Wilmersdorfer Künstlerkolonie. Herrnstadt soll sie dort gefragt haben: „Hast Du noch ne Kamera…?“

Das „Ja“, dass Eva Kemlein dann aussprechen konnte, war ein „Ja“-Wort, das tatsächlich erst mit dem Tod 4 Tage nach ihrem 95. Geburtstag 2004 endete.

Dazwischen liegen jene 59 Jahre, in denen Eva Kemlein Geschichte hautnah dokumentiert, z.B. als sie als Gegenüber-Nachbarin das erste denkwürdige Zusammentreffen der voneinander überraschten Überlebenden Ernst und Eva Busch in der Künstlerkolonie im Bild festhielt.

Die „Ja-Antwort auf die Frage Herrnstadts machte sie zur 1. Bildreporterin der 1. Berliner Nachkriegs-Zeitung. Kemlein dokumentierte Not & Elend des Lebens nach der „Stunde Null“:

Schwarzmarkt, Trümmerfrauen, Ackerbau im Tierpark, 1950 in 3000 Bildern das Berliner Stadtschloss unmittelbar vor seinem Abriss.

Im Auftrag Fritz Erpenbeck hatte sie für dessen Theaterdienst Fotos von Brechts ersten Proben nach seiner Rückkehr aus dem Exil gemacht und war elektrisiert von dieser Theaterwelt: Sie kündigte beim ILLUS-Bilderdienst und widmete sich als freischaffende Fotografin der Dokumentation dessen, was sie wie das Beobachten eines Bildhauers beim Schaffen seiner Figuren empfunden hatte. Aus dem Zuschauerraum entstanden unzählige Künstlerporträts, u.a. die von Ernst Busch als Richter Azdak im Kaukasischen Kreidekreis, als Galileo Galilei, Helene Weigel als Mutter Courage.

Die ersten 15 Jahre ihrer Selbstständigkeit arbeitete sie nur an Ost-Berliner Bühnen, später (ab Oktober 1964) auch an West-Berliner Theatern.

Sie kannte sie alle: Brecht, Eissler, Busch, Dessau, Piscator, Langhoff… – und alle kannten sie, diese ungewöhnliche Frau, die im Berliner Leben auch deswegen eine besondere Klammer der Kulturen darstellt, weil sie – obwohl durch und durch Sozialistin – IMMER im Westen gewohnt hat.

Wie das wohl in der Hoch-Zeit des „geteilten Himmels“ direkt nach dem Mauerbau und lange vor dem Passierschein-Abkommen im Dezember 1963 möglich war…? (Wer dazu von den Lesern Erinnerungen hat, bitte Mail an die Redaktion)

Eines ist jedenfalls gewiss: Eva Kemleins Leidenschaften überdauerten die DDR, denn sie war noch immer gern gesehener Gast am DT, als es den Staat schon lange nicht mehr gab – ihre letzten nun im Bestand des Berliner Stadtmuseums befindlichen Negative stammen von 2002. Und die Frage nach dem Sozialismus, die sei auch „noch nicht erledigt“, wie sie 2003 bei der letzten Ausstellung ihrer Bilder vor ihrem Tod im Centrum Judaicum „cool“ feststellte.

© Volker Hegmann, Ernst Busch Gesellschaft

Buch: „Berlin lebt auf!“ – Die Fotojournalistin Eva Kemlein (1909 – 2004)

herausgegeben von Anna Fischer & Chana Schütz, 128 Seiten, 80 Abbildungen

Klappenbroschur, 14,90 €, ISBN 978-3-95565-181-7, Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin, 2016


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Drei Generationen Familie Rickelt

Rückblicke auf meine Jugend in der Künstlerkolonie

 © Text- und Fotorechte bei Michael Rickelt

Wenn ich an die Künstlerkolonie denke erinnere ich mich an den Schrankkoffer der Lina Lassen, und es kommt mir das Brummen der Flugzeugmotoren in der Nacht in den Sinn. Die Häuserblocks waren zum großen Teil von Bom­ben verschont geblieben. (Wie uns die Konzertsängerin Nuscha Richter, die 1945 Dolmetscherin des russischen Stadtkommandanten gewesen war, berichtete, wurde den russischen Bombern befohlen, die Künstlerkolonie zu ver­schonen, weil dort der den Russen bekannte Ernst Busch gewohnt hat. Dennoch fiel eine kleine Bombe in das Haus am Laubenheimer Platz 9. Anm.d.R.). Nach Kriegsende flogen die Militärflugzeuge der Amerikaner über den Laubenhei­mer Platz, der 1963 in Ludwig-Barnay-Platz umbenannt wurde. Sie flogen hier schon tiefer, bevor sie in Tempelhof zur Landung ansetzten. Man konnte die runden Fenster am silbernen Rumpf erkennen. In späterer Zeit, als ich mal mit einer Propellermaschine der British European Airways in Richtung Frankfurt geflogen bin, habe ich den Platz mit den Bäumen und dem  Sandkasten von oben sehen können.

Wir hatten Pappe in den oberen Fenstern statt Glasscheiben. Die sehe ich noch, auch wie das Licht schlagartig ins Zim­mer kam, wenn das Fenster geöffnet wur­de. Während der Zeit der Blockade flogen die dicken Brummer im Stunden­rhythmus, aber es störte mich kaum als Kind. Ich spielte auf den Holzdielen des Fußbodens Panzer mit Schachteln, in die ich kleine Zweige steckte. Ich bestaunte die schweren Militär-Panzer der Amerikaner, wenn sie mit grell leuchtenden Scheinwerfern über den Südwestkorso rasselten und die Soldaten von ihrem Kanonenturm herunterwinkten.

Bis auf diese lautstarken Signale der Außenwelt schienen die Häuser um den Laubenheimer Platz wahre Gefilde der Ruhe und Abgeschiedenheit zu sein. Um zwölf Uhr mittags läuteten die Glocken vom Turm der Kirche am nahe gelegenen Bergheimer Platz. Dann klapperten Pferdehufe, ein Wagen der Domäne Dahlem stellte sich auf, die Leute kamen mit Blechkannen, um Milch zu holen. Die Szenerie hat geradezu ländlich gewirkt. Das alles konnte ich als kleiner Junge vom Fenster aus beobachten. Ich wohnte im ersten Stock am Laubenhei­mer Platz 6, zusammen mit meiner Mutter und der Groß­mutter väterlicherseits. Mein Vater (Martin Rickelt) war in sowjetischer Gefangenschaft in Sibirien. Er hatte meine Mutter während des Krieges in der Ukraine kennengelernt, eine junge Sängerin namens Tamara Ponomarenko.

Das war im Fronttheater von Slawjansk, das er leitete. Eine solche Beziehung war natürlich im „Dritten Reich”verboten, aber er hatte es dennoch fertiggebracht, sie nach Deutsch­land reisen zu lassen, wo sie bei seiner Mutter in der Künstlerkolonie unterkam. Geboren wurde ich in Schmargendorf, im Säuglingsheim an der Lentzeallee.

Marie Baumann, meine Großmutter, stammte aus einer großbürgerlichen Familie. Sie war in Riga und Freiburg im Breisgau aufgewach­sen und fühlte sich als junge Frau vom Glanz der aufstre­benden Theater-Me­tropole Berlin mäch­tig angezogen. Sie wollte Schauspiele­rin werden und be­gegnete dem als Cha­rakterdarsteller be­kannt gewordenen Gustav Rickelt, meinem Großvater.

Zu jener Zeit war dieser schon in den Fünfzigern, spielte im Berliner Künstlertheater in Hauptmanns Biberpelz die Rolle des Rentiers Krüger und war mit dem Dichter Frank Wedekind befreun­det. Gustav Rickelt, der spätere Präsident der Bühnen­ genossenschaft und als solcher Gründer der Künstlerkolonie, hatte das abenteuerli­che Wanderleben ei­n es Theater­schauspielers mit allen Sonnen- und Schattenseiten ken­nengelernt. Um 1890 befand er sich mit den Meiningern auf Tour­nee in Amerika. Der Neue Theater-Alma­nach von 1892 ver­merkt ihn als Ensemblemitglied ei­nes deutschsprachi­gen Thalia-Theaters in der Bowery, New York

In dem autobiografi­schen Buch “Königin, das Leben ist doch schön, mit dem Untertitel „Ein deutscher Theater-Roman”, schildert er an­schaulich einige Episoden aus dieser Zeit. Als mein Vater aus Russland zurückkehrte, versuchte er, wieder als Schauspieler in Berlin Fuß zu fassen. Die Situation war die denkbar schlechteste, die Theater waren zerstört. Immerhin betrieben die Besatzungsmächte Rund­funkstationen. Aber irgendjemand aus dem Nachbarhaus muß ihn wegen seiner russischen Frau bei den Amerika­nern denunziert haben. Daraufhin bekam er Arbeitsverbot beim RIAS. Und im Osten gab ihm ein Kulturfunktionär insgeheim den guten Rat, lieber im Westen zu bleiben. Der das sagte, war Kulturminister der DDR, er hieß Johannes R. Becher (ebenfalls ehem. Bewohner der Künstlerkolonie, Anm.d.R.) und war ein Bekannter von Niels, dem Bruder meines Vaters, der in Dänemark lebte.

Aus der Verbindung meines Großvaters mit Marie Baumann gingen zwei Söhne hervor, Niels und Martin. Da Gustav Rickelt mit einer anderen Frau verheiratet war, hießen sie Baumann. Erst später ließ ihr Vater die beiden legalisieren und seinen Namen annehmen. Nachdem die ersten Wohn­blocks der Künstlerkolonie zwischen Südwestkorso und Kreuznacher Straße errichtet worden waren, bekam Marie Baumann in der Bonner Straße eine Wohnung, die sie mit ihren Söhnen bezog.

Auch ihr Bruder, Paul Baumann, wohnte nun einige Häuser weiter. Er hatte in München einen literarischen Verlag „Die Wende” gegründet und ein kostspieliges Mappenwerk mit Druckgrafiken herausgegeben. Seinerzeit bekannte Künst­ler wie Emil Pirchan, Wilhelm Schnarrenberger und Emil Betzlerwaren daran beteiligt. In Berlin unterrichtete er dann als Lehrer an der Privatschule des Pädagogen Berthold Otto in Lichterfelde. Über diesen hat er in seinen letzten Lebensjahren ein wissenschaftlich-biografisches Werk ver­faßt. Ich bin oft die vielen Stufen zu Paul Baumanns Wohnung in der Bonner Straße 1 hinaufgestiegen und habe mich in die merkwürdigsten seiner unzähligen Bücher vertieft. Dicke alte und wertvolle Folianten mit Bildnissen von Gelehrten und geheimnisvollen Pflanzen standen in den Regalen, die auch die Wände des Flurs einnahmen. 

Ein anderer Bruder meiner Großmutter wohnte ebenfalls in der Künstlerkolonie. Hans Baumann, der als Presse­zeichner für die BZ am Mittag begann und sich dann einen Fotoapparat zulegte, um Bilder von berühmten Persönlich­keiten wie Gustav Stresemann, Gerhart Hauptmann oder Mussolini zu schießen. Diese wurden großformatig in der Berliner Illustrierten veröffentlicht. Als die Nazis kamen, ging er nach London, wo er zum Chefreporter der Picture Post avancierte. Als Felix H. Man ist er später in die Geschichte des Foto-Journalismus eingegangen.

Während mein Vater die Berthold-Otto-Schule besuchte, ging sein älterer Bruder Niels auf die Karl-Marx-Schule in Neukölln. Hier hatte er sich schon früh kommunistisch orientierten Schüler- und Studentengruppen angeschlos­sen. Als die Künstlerkolonie, der „rote Block”, im März 1933 von SA-Männern umstellt wurde, fand in der Wohnung meiner Großmutter eine erste Hausdurchsuchung statt. Aber außer ein paar Büchern mit verdächtigem lnhaltfanden sie nicht das, was sie suchten. Niels war bereits unterge­taucht und befand sich auf dem Weg über die Ostsee nach Kopenhagen. Während der deutschen Besatzungszeit agier­te er im politischen Untergrund für den dänischen Wider­stand. Nach dem Krieg blieb er in Dänemark und bekleidete eine Stelle im Staatsarchiv. Das Arbejdermuseet in Ko­penhagen bewahrt seinem politischen Wagemut ein An­denken in Form von Briefen, Dokumenten und Fotos. Darunter auch ein Foto seiner Mutter, die bis zu ihrem Tode 1975 zurückgezogen in ihrer Wohnung in der Bonner Straße 8 lebte.

Meine Eltern und ich waren vom Laubenheimer Platz in die Kreuznacher Straße gezogen. Die von Reben bewachse­nen Fassaden waren sonnenverwöhnt, den ganzen Som­mer über summten die Wespen. Gegenüber erstreckten sich die Schrebergärten bis zum Breitenbachplatz.

Im Parterre unseres Hauses wohnte eine ältere Dame. Es war die Schauspielerin Lina Lassen. Sie trat bereits in Stummfilmen auf, spielte mit Zarah Leander und Gustaf Gründgens und wirkte in einem der letzten Filme des „Dritten Reiches” unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner mit. Ganz oben im Haus sah man ab und zu vom Balkon einen stattlichen Mann mit gebräuntem Oberkörper und Hornbrille herunterschauen, es war der Schriftsteller Os­wald Richter-Tersik, der Unterhaltungsromane wie „Tänze­rin der Liebe” und „Lady Hamilton” verfaßt hatte.

Mein Zimmer ging zum Hof hinaus, der war ziemlich dunkel. Aber wir Kinder rannten dort gern herum, sehr zum Verdruß des Hausmeisters, einer korpulenten Respektsperson. Wir verpaßten ihm den Spitznamen Fiegenklotz und machten uns einen Spaß daraus, vom Hof gejagt zu werden. Sonst malten wir mit Kreide auf dem Asphalt der Straßen am Laubenheimer Platz weitläufige Grundrisse unserer Fantasie­häuser. Kein einziges Kraftfahrzeug war zu sehen, das unser Treiben hätte beeinträchtigen können.

Meine erste Schule war die ehemalige Gartenarbeitsschule in der Dillenburger Straße. Dorthin hatte ich einen recht weiten Weg, der über den Breitenbachplatz führte. Ich habe noch das friedliche Bild des Platzes vor Augen mit den hohen Pappeln, die den Eingang zur U-Bahn überragten. Später kam ich in die gerade neu erbaute Pavillonschule am Rüdesheimes Platz, die zu einem Aushängeschild für die damals moderne Schulpolitik des Berliner Senats wurde. Zur Eröffnung traten wir im Schulchor auf. Bezirksbürger­meister Dumstrey übergab den Goldenen Schlüssel an die Rektorin, Frau Schnee, eine begnadete Pädagogin.

Der Einser-Bus fuhr über den Südwestkorso in Richtung Moabit. Mit diesem Bus fuhr ich abends als Neunjähriger in die Bismarckstraße ins Schiller-Theater. Mein Vater hatte mich dem Intendanten Boleslaw Barlog vorgestellt, und nachdem ich als „Weberjunge” in Hauptmanns Die Weber zu den Ruhrfestspielen nach Recklinghausen mitfahren durfte, bekam ich eine kleine Rolle im „Hauptmann von Köpenick”. Den spielte der legendäre Werner Krauß. Ich trat in einer Szene als Sohn des Bürgermeisters Obermüller auf, den Martin Held an der Seite von Bertha Drews so glänzend witzig darstellte.

Auch beim Film wirkte ich mit, wo ich den erwähnten Regisseur Wolfgang Liebeneiner kennenlernte. Ich spielte einen Jungen in kurzen Lederhosen. Meine Partnerin war Antje Weißgerber: sie verkörperte eine schöne Frau, die im Rollstuhl saß und unglücklich in einen Mann verliebt war (Hans Söhnker). Der Film hieß Die Stärkere. Meine Mutter trat in Konzerten auf, sie sang als Mezzoso­pranistin z.B. auf der Freilichtbühne Rehberge im Wedding die Saffi im Zigeunerbaron von Johann Strauß. Später hat sie mit ihrer klaren und temperamentvollen Stimme russi­sche Lieder von Glinka und Gurilew vorgetragen.

Einige Schauspieler, die mit meinen Eltern befreundet waren, arbeiteten am Berliner Ensemble im Theater am Schiffbauerdamm. Zu ihnen gehörte Heinz Schubert, der mit seiner Frau llse und zwei kleinen Töchtern auch in der Künstlerkolonie wohnte, in der Laubenheimer Straße 7.

Heinz Schubert wurde von Bertolt Brecht entdeckt und entwickelte sich auf dessen epischer Bühne zu einer markanten Darstellerpersönlichkeit. Die Familien Schu­bert und Rickelt sind im Sommer zusammen nach Holland zum Zelten gefahren und später nach Schweden. Ich habe Heinz Schubert als Jugendlicher bewundert, weil er einer der wenigen Erwachsenen war, die es wagten, mit Blue Jeans herumzulaufen. Das war damals verpönt und blieb den verrufenen Halbstarken vorbehalten. Nach dem Bau der Mauer gingen die Schuberts nach Westdeutschland, und in späteren Jahren wurde Heinz Schubert als Ekel Alfred Tetzlaff zum Liebling der Fern­seh-Zuschauer. In jenen Jahren muß in Westberlin eine allgemeine Aufbruchstimmung geherrscht haben. Auch mein Vater folgte einem Ruf an ein westdeutsches Theater. Daß er gegen Ende seiner Schauspielerlaufbahn die Figur des hinterhältig-fiesen Alt-Nazis Onkel Franz in der „Linden­straße” verkörpern und damit populär werden würde, kann vielleicht als Ironie des Schicksals gesehen werden. Für uns hieß es jedoch, Abschied zu nehmen von Freun­den, von Berlin und von der Künstlerkolonie. Zu unserem Umzugsgepäck gehörte unter anderem ein schwerer schwarzer Schrankkoffer, in welchen Anzüge und Kostü­me eingehängt werden konnten. Den hatte die ältere Dame vom Parterre, Lina Lossen, kurz vor ihrem Tod meinem Vater vermacht. Auf dem blechumrahmten Schild konnten Zielort und Absender angegeben werden. Mit Schreibma­schine getippt stand nun hier zu lesen, Zielort: Badisches Staatstheater Karlruhe – Absender: Berlin-Wilmersdorf, Kreuznacherstraße 38. Als Erinnerung an unseren Weg­gang aus Berlin habe ich diesen Schrankkoffer bis auf den heutigen Tag aufbewahrt. 

© Michael Rickelt, Künstlerkolonie Berlin e.V.

 


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Damals war’s…Paula Thiede. Von einer, die auszog, eine Gewerkschaft anzuführen …

Wir sind über eine interessante Buchveröffentlichung aufmerksam geworden, welches wir kurz vorstellen möchten.

 

“Frau Berlin” – Paula Thiede
(1870-1919)

Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden
 
Paula Thiede wurde als Pauline Berlin am 6. Januar 1870 in Berlin geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie rund um den heutigen Mehringplatz in Kreuzberg, am südlichen Rand des Zeitungsviertels.
 
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Sie kam aus proletarischen Verhältnissen, stand früh auf eigenen Beinen und wurde »Anlegerin« an Buchdruckschnellpressen. Mit 19 heiratete sie, mit 21 war sie Witwe und hatte eines ihrer beiden Kinder unter dramatischen Umständen verloren. Sie kämpfte sich zurück ins Leben und trat dem »Verein der Arbeiterinnen an Buchdruck-Schnellpressen« (siehe Kasten) bei. Sie heiratete erneut und versuchte trotz aller Schwierigkeiten, dem sozialen Elend des Kaiserreichs mit kämpferischer Gewerkschaftsarbeit zu begegnen.
Von 1898 bis zu ihrem Tod im Jahre 1919 war sie Vorsitzende des »Verbandes der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen Deutschlands«. Damit war sie, soweit bekannt, weltweit die erste Frau an der Spitze einer gemischtgeschlechtlichen Gewerkschaft.
In ihre Amtszeit fallen große Erfolge: Lohnsteigerungen durch heute vergessene Kampftaktiken, frühe Tarifverträge und ein hoher Anteil von organisierten HilfsarbeiterInnen. Auch zeigte sich, wie die einengende Geschlechterpolitik der Gesellschaft und der Gewerkschaften ins Wanken gebracht werden konnte. Paula Thiede starb am 3. März 1919 nach langer Krankheit.

Autoreninformation:
Dr. Uwe Fuhrmann hat nach einer Schreinerlehre Geschiche studiert. Er publiziert seit 2012 als Teil des AK Loukanikos über Geschichtspolitik und kritische Wissenschaften.


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Gedenken an Graf Stauffenberg und Ludwig Beck am 20. Juli 2019

Zum 75. Mal jährt sich am Samstag, 20. Juli 2019, der gescheiterte Attentatsversuch auf Hitler durch die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Juli 1944.

Der gebürtige Schwabe hatte seinen letzten Wohnsitz in der Tristanstraße 8-10, gelegen im heutigen Ortsteil Nikolassee des Bezirks Steglitz-Zehlendorf. Zusammen mit Generaloberst a.D. Ludwig Beck, dessen letzter Wohnsitz in der Goethestraße 24 (Ortsteil Lichterfelde) lag, zählte er zu den prägenden Figuren des militärischen Widerstands aus den Reihen der Wehrmacht.

Hätte die Operation „Walküre“ ein glückliches Ende gefunden, wäre Ludwig Beck provisorisches Staatsoberhaupt eines neuen und demokratischen Deutschlands geworden. Für den Bezirk Steglitz-Zehlendorf ist es Ehre und Verpflichtung zugleich, das Erbe der bürgerlichen und militärischen Widerstandbewegung gegen das NS-Regime zu pflegen und die Erinnerung daran wachzuhalten.

Der Berliner Südwesten war eine der Keimzellen des Widerstands, die christliche Überzeugung vieler Protagonisten eine wesentliche Triebfeder. Nicht nur der „Kreisauer Kreis“ um Peter Graf Yorck von Wartenburg ist auf das Engste mit unserem Bezirk verbunden, auch Pastor Martin Niemöller von der „Bekennenden Kirche“, dessen Gemeinde in Dahlem lag, wirkte hier.

Stellvertretend für alle, die am Widerstand des 20. Juli beteiligt waren, soll besonders an Graf Stauffenberg und Ludwig Beck erinnert werden. Hierzu lädt das Bezirksamt, vertreten durch Bezirksstadtrat Frank Mückisch, zu zwei aufeinander folgenden Feierstunden an unterschiedlichen Orten ein: zunächst in die Tristanstraße, danach in die Goethestraße.

Der Bezirk freut sich, mit Diplom-Pädagogin Elisabeth Heidötting-Shah von der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ eine sachkundige Referentin gewonnen zu haben. Umrahmt wird die Gedenkrede durch einen feierlichen Musikbeitrag.

Beginn ist am 20. Juli 2019 um 10:00 Uhr am Standort Tristanstraße 8-10, 14109 Berlin-Nikolassee. Um 12:00 Uhr wird die Veranstaltung am Standort Goethestraße 24, 12207 Berlin-Lichterfelde fortgesetzt.


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Damals war’s…Truppe 1931

Das Theater Truppe 1931 ist entstanden aus der kommunistischen Zelle in der Künstlerkolonie Berlin. Gründer, Leiter und Autor war Gustav von Wangenheim, der spätere Intendant des Berliner Ensembles

Die Theatertruppe bildete sich 1931 aus der kommunistischen Zelle in der Künstlerkolonie Berlin.

Gründer und Leiter war Gustav von Wangenheim, der später Intendant des Berliner Ensembles war. Wegen dieser alten Freundschaft hielt Gustav von Wangenheim auch am 6. Januar 1946 auch die Totenrede für die Schauspielkollegen undWiderstandskämpfer Hans MeyerHanno und Hans Otto.

Mitwirkende waren vorwiegend Bewohner der Künstlerkolonie Berlin:

Steffie Spira

Hans MeyerHanno mit seiner Frau Irene als Pianistin

Curt Trepte

Fedja Boensch

Louise Fernes

Ingeborg Franke

Otto Hahn

Charlotte Jacoby

Theodor Popp

Stefan Wolpe als Komponist (nach 1933 sehr erfolgreich in den USA, später auch Prof. an der MusikhochschuleHanns Eisler“)

Heinrich Greif (auch organisatorischer Mitarbeiter)

Alexander Lex (Maler)

Nerlinger (Maler)

Robert Trösch

und als kostenlose Berater für die Textbücher oft gefragt

Arthur Koestler und Theodor Balk.

Stücke waren u.a. Da liegt der Hund begraben (1931), Die Mausefalle (1931/32), Wer ist der Dümmste? von KarlAugust Wittfogel (1933 verboten durch die Nationalsozialisten) mit Auslandstourneen in die Schweiz, nach Österreichu.a.

Nach der Großrazzia am 15. März 1933 hat sich die Theatergruppe aufgelöst.

Quellen

  1. Steffie SpiraRuschin: Trab der Schaukelpferde, AufbauVerlag, Berlin (DDR), 1984
  2. Stücke bei: Gustav von Wangenheim, Da liegt der Hund begraben, Reinbek b. Hamburg, Rowohlt, 1974

Literatur

  • Gustav von Wangenheim, Da liegt der Hund begraben und andere Stücke. Aus dem Repertoire der Truppe 31, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, dnb 44, 1974. Enthält Da liegt der Hund begraben, Die Mausefalle, Wer ist derDümmste?, Das Urteil.


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Erinnerung an den Widerstand in Wilmersdorf

Die Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz

In der Nähe des Breitenbachplatzes ließ die „Berufsgenossenschaft deutscher Bühnenangehöriger” und der „Schutzverband deutscher Schriftsteller” in den Jahren von 1927-1929 drei Wohnblocks für ihre Mitglieder um den Laubenheimer Platz (heute: Ludwig-Barnay-Platz) errichten.

Im Gegensatz zur Villenkolonie Grunewald lebten hier vor allem notleidende Künstler, denen die Bühnengenossenschaft und der Schutzverband günstigen Wohnraum boten. Nach dem Konzept der „Gartenterrassenstadt” sollte hier gemeinschaftliches Wohnen gefördert werden. Die Gartengestaltung der Innenhöfe kam dieser Idee ebenfalls entgegen.

Unter den Mietern befanden sich viele prominente Künstler und lntellektuelle, die fast alle politisch links eingestellt waren. Viele von ihnen kämpften gerade in der Endphase der Weimarer Republik für eine gemeinsame sozialistische Aktions­front gegen den anwachsenden Nationalsozialismus und überwanden in ihren Reihen den damals erbittert geführten ideologischen Kampf zwischen KPD und SPD.

Zahlreiche Bewohner der Künstlerkolonie waren jüdischer Abstammung und wurden zudem als Linksintellektuelle von den Nazis gleich zu Beginn der Diktatur besonders verfolgt.

Bis zum Frühjahr 1933 lebten etwa 300 Schriftsteller, Journalisten, Maler, Sänger und Schauspieler in den Häusern um den Laubenheimer Platz, unter ihnen Ernst Busch, Erich Weinert, Ernst Bloch, Arthur Koestler, Walter Hasenclever, Alfred Kantorowicz, Manes Sperber, Susanne Leonhard, Johannes R. Becher, Martin Kessel, Steffie Spira-Ruschin und ihr Mann Günther Ruschin, Walter Zadek und viele andere.

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise waren Dreiviertel der Bewohner ohne Engagement und arbeitslos.

Axel Eggebrecht (1899-1991), der im gleichen Haus wie Susanne und Wolfgang Leonhard in der Bonner Straße 12 wohnte, schrieb in seinen Erinnerungen:

,,Nun brachten viele Bewohner selbst die niedrigen Mieten nicht mehr auf, wie überall in Berlin drohten Exmittierungen (Ausweisung aus einer Wohnung, Anm. d. V.), wie überall gab es dagegen Protestaufmärsche. Bei uns ähnelten sie eher Volksbelustigungen, hatten fast immer Erfolg. Und dabei zeigte sich schon ein Gemein­schaftsgeist, der in naher Zukunft eine wichtige Rolle spielen sollte.”

Die Mieter solidarisierten sich und forderten eine Mietsenkung, um die zunehmende Entmietung der Künstlerkolonie zu beenden. Sie wählten die Schriftsteller Karl Otten und Sigmund Reis sowie den Schauspieler Rolf Gärtner zu Mieterräten, die die Interessen der Gesamtmieterschaft vertraten.

Zwangsräumungen verhinderten die Bewohner, indem sie in kürzester Zeit die geräumten Möbelstücke von der Straße wieder hinauf in die jeweilige Wohnung trugen. Viel war es meistens ohnehin nicht.

Gustav Regler beschrieb in seiner Biographie „Das Ohr des Malchus” (1958) den Lebensstandard in der Künstlerkolonie so:

,,Es waren billige Wohnungen, und doch bezahlte kaum einer seine Miete; weder die Gehälter noch die sogenannten Einkünfte der freien Berufe reichten aus. In den meisten Behausungen lag nur eine Matratze am Boden. Die Künstler aßen von Seifenkisten, über die sie Zeitungen gebreitet hatten; keiner verhungerte, man half sich gegenseitig und wanderte von Wohnung zu Wohnung, man roch, wo einer Arbeit gehabt hatte und etwas Speck und Käse zu finden war.”


Laubenheimer Platz (heute: Ludwig-Barnay-Platz)

Im Januar 1933 zeigten sich für die solidarische Mietergemeinschaft erste Erfolge.

Den Bewohnern wurde eine Mietsenkung um 8% gewährt. Gleichzeitig erhielten jedoch die drei Mieterräte, die sich in den vergangenen Wochen besonders engagiert hatten, die Kündigung ihrer Wohnungen zum 1. April 1933.

Organisierter Selbstschutz gegen SA-Übergriffe in den Jahren 1931-1933

Neben den Mieterräten bildete sich noch ein anderer Schutzverband zu Beginn der 30er Jahre in der Künstlerkolonie heraus. Die Parterre-Wohnung von Alfred Kantorowicz (1899-1979) in der Kreuznacher Straße 48 wurde ein Treffpunkt kritisch gesinnter Menschen.

Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, von seinen Freunden „Kanto” genannt, war erst 1931 in die Kommunistische Partei eingetreten. Mit Gleichgesinnten gründete er die Zelle „Künstlerblock“, deren Zellenwart er war. Gustav Regler übernahm die Funktion des Organisationsleiters.

Da die Nationalsozialisten wußten, daß in der fortan „Roter Block” genannten Kolonie Nazi-Gegner auf engstem Raum zusammenlebten, kam es immer wieder zu Übergriffen der SA.

Axel Eggebrecht beschrieb diese Zeit in seinen Erinnerungen so:

,,SA zog provozierend durch unser Viertel. Spät abends wurden einzelne Heimkehrer am U-Bahnhof Breitenbachplatz angerempelt, … Als die Bedrohung nicht aufhörte, gründeten wir einen Selbstschutz …. Die wenigen, die mit den Nazis liebäugelten, waren geächtet, verkrochen sich oder zogen fort …

Ohne Rücksicht auf politische Unterschiede bildete sich spontan ein fünfköpfiger Ausschuß, der die Organisation des Selbstschutzes vor SA-Übergriffen übernahm.

Alfred Kantorowicz schrieb in seinen Erinnerungen „Deutsches Tagebuch“, daß etwa 400 von den rund 1000 Bewohnern der Künstlerkolonie aktiv am Selbstschutz beteiligt waren:

,,ln den drei Künstlerblocks aber zeigte sich auch nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 bis zum Tage des Reichstagsbrandes nicht eine einzige Fahne mit dem Hakenkreuz … Rückten die SA-Stürme an, so waren wir vorbereitet, sie zu empfangen … An Wahltagen prangten die drei Blocks trotzig im Schmuck Hunderter von schwarz-rot-goldenen und roten Fahnen und Transparenten … “

Gelegentlich erhielt der Selbstschutz auch Hilfe von Nazi-Gegnern aus anderen Stadtteilen Berlins. Nach dem Reichstagsbrand vom 27./28. Februar 1933 war Kantorowicz, wie andere KP-Mitglieder, der ersten Verhaftungswelle der Nationalsozialisten ausgesetzt. Bei einem Freund konnte er sich verstecken und setzte von dort aus seine Widerstandstätigkeit einige Wochen lang weiter fort.

,,In einem Keller stand noch ein Vervielfältigungsapparat, und die Genossen zogen den Text eines bereits von mir auf eine Wachsplatte getippten Flugblattes gegen die Nazis ein paar hundertmal darauf ab, und wir steckten die Blätter noch vor Morgengrauen in die Briefschlitze der Bewohner der Künstlerblocks am Laubenheimer Platz oder hefteten sie an Mauern und Bäume, verstreuten sie vor den Ein­gängen der U-Bahn, neben Zeitungsständen, auch in der Nähe größerer Betriebe … “

Kantorowicz berichtet in seinen Erinnerungen ebenfalls davon, daß er mit seinen Genossen im März 1933 Parolen mit Ölfarbe an Hauswände und auf Straßen geschrieben hat:

,,Für Arbeit, Freiheit, Brot – der Künstlerblock bleibt rot!”
oder
„Gegen Krieg und Barbarei – wählt Kommunisten, Liste drei!”

Gemeint waren die Reichstagswahlen zum 5. März.

Kantorowicz mußte als Jude und Kommunist wie viele andere Bewohner der Künstlerkolonie Ende März 1933 die Flucht ins Ausland antreten. Sein erster Wohnort im Exil war Paris, wo er Mitbegründer des „Schutzverbandes deutscher Schriftsteller im Exil” und der „Freiheitsbibliothek” wurde. lm Herbst 1936 kämpfte er als Offizier der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. Zurück­gekehrt nach Frankreich kam er1939 in verschiedene Internierungslager, u. a. Les Milles, bis ihm 1941 die Flucht in die Vereinigten Staaten gelang.

Die Bewohner der Künstlerkolonie wußten, daß sie vom NS-Terror zunehmend bedroht waren. Bereits im Februar 1933 war es vereinzelt zu Wohnungsdurchsuchungen gekommen. Axel Eggebrecht berichtet, daß der Selbstschutz zur Verteidigung der Wohnblocks Waffen organisierte und Wachposten aufstellte.

Eggebrecht wurde 1933 verhaftet und kam für kurze Zeit ins KZ. Zwei Jahre erhielt er Schreibverbot. Von 1935 bis 1945 nutzte er die Möglichkeit, an Drehbüchern mitarbeiten zu können.

 

Groß-Razzia und Verhaftungswelle im „Roten Block”

Am 15. März 1933 führten als „Schutzpolizei” getarnte SA-Trupps eine Groß-Razzia in der Künstlerkolonie durch, um den verhaßten „Kulturbolschewisten“ ein Ende zu bereiten. Das „Neuköllner Tageblatt“ vom 16.2.1933 berichtete:

Die Kommandos fuhren auf verschiedenen Wegen nach dem Breitenbach- und Laubenheimer Platz und besetzten von dort aus überraschend die Zugänge zu den verschiedenen Straßen und zu den Häusern in der Kreuznacher, Laubenheimer und Bonner Straße. Polizeiposten mit Karabinern sperrten den gesamten Verkehr und riegelten das Viertel hermetisch ab … Einige Wohnungsinhaber verbarrikadierten sich derartig in ihren Wohnungen, daß die Polizei über Feuerwehrleitern durch die Fenster mit Gewalt eindringen mußte.”


Axel Eggebrecht

Bei den Wohnungsdurchsuchungen kam es zu Diebstählen und sinnlosen Verwüstungen. Belastendes Material wurde beschlagnahmt, Bewohner mißhandelt und 14 Deutsche sowie einige Ausländer verhaftet.

Der Journalist Walter Zadek (geb.1900), der seit 1925 Ressortchef beim „Berliner Tageblatt” und seit 1930 Leiter der bedeutenden Nachrichtenagentur „Zentralredaktion für deutsche Zeitungen” war, berichtet in seinem Buch „Sie flohen vor dem Hakenkreuz” (1981) u.a. von seiner Verhaftung in der Künstlerkolonie:

“ … Ich besaß Arbeitsräume (Laubenheimer Straße 3, seit 1932, Anm. d. V.) in der nahe gelegenen ,Künstlerkolonie’ .

. . . In meiner Wohnung (Bonner Straße 3, seit 1930,Anm. d. V.) hatte, schon seit ich Ressortchef beim Berliner Tageblatt gewesen war alle vierzehn Tage eine Artjour stattgefunden, an dem sich Dichter, Politiker, Musiker usw. gegenseitig an- und aufregten, darunter Maler des Bauhauses, Mitarbeiter der Weltbühne, Schauspieler von Reinhardt u. a …. , am 15. März 1933 werden die Wohnblocks der ,Künstlerkolonie’ von Polizei und SA-Leuten umstellt. Ich werde durch sieben schwerbewaffnete Jungen des ,Kommando zur besonderen Verwendung’ mißhandelt und mit blutendem Gesicht die Treppe hinuntergestoßen.

Halb bewußtlos höre ich: …Wirst du Judenschwein wohl schneller laufen!’ … Un­ ten werde ich auf einen Polizeiwagen hinaufgestoßen …. “

 

Ein Foto (Seite 16) der Verhaftung erschien am 16. März 1933 mit einem entstellenden Bericht in den Nazi-Zeitungen. Walter Zadek wurde zusammen mit Theodor Balk, Manes Sperber, Curt Trepte, Günther Ruschin und anderen verhaftet. Wie die meisten der Verhafteten kam er zunächst in das Polizeigefängnis am Alexanderplatz und danach für etwa vier Wochen in Gefängnishaft nach Spandau. Durch einen Zufall wurde er entlassen und konnte die Flucht ins Exil über Holland nach Belgien antreten, die ihn schließlich im Dezember 1933 nach Palästina führte.

Der Romancier und Essayist Manes Sperber (1905-1984) hatte Anfang 1933 seine Wohnung in der Paulsborner Straße 3 aufgegeben und sich bei einem Bekannten in der Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz 5 einquartiert. Sperber, der seit 1927 in Berlin war und in dieser Zeit in die KPD eingetreten war, verbrachte seit dem Reichstagsbrand die Nächte meistens nicht mehr in seiner Wohnung, sondern bei politisch nicht gefährdeten Freunden. Mit seinen Genossen verbreitete er noch in den Märztagen 1933 Nachrichten über den Naziterror um Bedrohte zu warnen und die verbrecherische Skrupellosigkeit der Nazis zu enthüllen. Aufgefordert durch seinen Bekannten Jensen, versteckte Sperber in seinem Quartier in der Künstlerkolonie zwei Armeepistolen und mehrere Revolver in drei Bettcouches. Die Munition verteilte er unter einigen Genossen.

Durch einen Zufall verbrachte Manes Sperber ausgerechnet die Nacht zum 15. März 1933 in dieser Wohnung. Während der Razzia wurde er verhaftet und in „Schutzhaft” genommen. Die Waffen blieben unentdeckt. Im April 1933 erhielt er seine Entlassung und konnte als österreichischer Staatsbürger über Jugoslawien nach Paris emigrieren. 1937 trat er aus der kommunistischen Partei aus. Bedeutende Werke Sperbers sind u. a. die Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean” (1949-53) und „Erinnerungen” (1974-77). 1983 erhielt er den Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.

Einzelschicksale in der Künstlerkolonie und die Flucht ins Exil

Susanne Leonhard wohnte ab 1931 im gleichen Haus wie Axel Eggebrecht, zusammen mit ihrem zehnjährigen Sohn Wolfgang (geb.1921), der Mitglied der Jungen Pioniere war und die von dem Reformpädagogen Fritz Karsen (SPD) geleitete Karl-Marx-Schule in Neukölln besuchte. (Siehe die Neukölln-Darstellung dieser Schriftenreihe). ‘- Susanne Leonhard war früh in die Kommunistische Partei eingetreten und vor­übergehend mit einem Sowjetdiplomaten verheiratet. 1925 erfolgte ihr Austritt aus der Partei, sie blieb aber weiterhin eine) überzeugte Revolutionärin in der Tradition Rosa Luxemburgs.

Bis zu ihrer Emigration arbeitete sie als Redakteurin für die Parteizeitung „Rote Fahne“. 1933 ging sie mit ihrem Sohn Wolfgang ins Exil nach Schweden und 1935 in die UdSSR. Im sowjetischen Exil wurde Susanne Leonhard verhaftet. Wolfgang Leonhard machte sich nach dem Krieg als politischer Schriftsteller in der Bundesrepublik vor allem durch sein autobiographisches Buch „Die Revolution entläßt ihre Kinder” (1955) einen Namen.

Die Schauspielerin und Schriftstellerin Hedda Zinner (geb. 1907) lebte seit 1929 mit ihrem Mann Fritz Erpenbeck (1897-1975), Schriftsteller und Regisseur, in der Künstlerkolonie im Barnayweg 3 (heute: Steinrückweg). Nach ihrem Eintritt in die KPD arbeitete sie als Korrespondentin für die „Rote Fahne“. Ihre Begeisterung für die KPD war typisch für viele Intellektuelle zu Beginn der 30er Jahre. Im Bewußtsein der drohenden Gefahr durch den Nationalsozialismus und enttäuscht von der aus ihrer Sicht schwachen SPD sahen viele in der KPD die einzig ernstzunehmende politische Kraft. Erst die Erlebnisse im Exil, z. B. Berichte über Schauprozesse und Terrormaßnahmen Stalins, vor allem die „großen Säuberungen” in den Jahren 1935-38, denen viele Unschuldige zum Opfer fielen, führten bei vielen KP­ Mitgliedern zu einem Sinneswandel.

Zahlreiche Bewohner der Künstlerkolonie haben ihre desillusionierenden Erfahrungen mit der Kommunistischen Partei beschrieben, die meist zum Austritt und zu entschiedener Gegnerschaft gegen jede Form von Totalitarismus führten, so bei Axel Eggebrecht, Alfred Kantorowicz, Wolfgang Leonhard, Manes Sperber, Ernst Bloch, Arthur Koestler, … um nur einige zu nennen.


Hedda Zinner

Hedda Zinner gehörte nicht zu diesen scharfen Kritikern jeder rotalitären Ideologie. Sie emigrierte 1933 mit ihrem Mann nach Prag und 1935 nach Moskau. Nach dem Kriegsende kehrten beide nach Berlin (Ost) zurück. Hedda Zinner wurde 1959 Vizepräsidentin der „Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland“. In den siebziger Jahren beschrieb sie in ihrem autobiographischen Roma „Fini” die Aktivitäten der Antifaschistin Fini Freising von Anfang 1932 an im „Roten Block“.

Ebenfalls ins Exil flüchten mußte das Schauspielerehepaar Steffie Spira-Ruschin (geb.1908) und Günther Ruschin. Sie wohnten in einer kleinen Wohnung in der Bonner Straße 9. Steffie Spira wurde 1928 zur „Vertrauensfrau” der Bühnengenossenschaft gewählt und ging kurze Zeit darauf an die Volksbühne unter Erwin Piscator. Sie wirkte an der Uraufführung von Bertolt Brechts Stück „Mann ist Mann” unter der Regie von Erich Engels mit. Der mit Brecht befreundete Regisseur wohnte auch in der Künstlerkolonie in der Kreuznacher Straße.

1931 trat Steffie Spira-Ruschin in die KPD ein. Gemeinsam mit ihrem Mann schloß sie sich der politischen Theatergruppe „Truppe 1931” an, die der Regisseur Gustav von Wangenheim leitete. Wie von Wangenheim lebten noch weitere Mitglieder der „Truppe 1931” in der Künstlerkolonie, so die Schauspieler Hans Meyer-Hanno (S. 25 ff.) und Curt Trepte.

Von Wangenheim schrieb unter Mitwirkung des ganzen Theaterkollektivs Stücke, so „ Die Mausefalle“, „Da liegt der Hund begraben” und zuletzt „Wer ist der Dümmste ?”, das 1933 von den Nazis verboten wurde, da mit dem „Dümmsten” im Stück Adolf Hitler gemeint war.

Die „Truppe 1931” hatte großen Erfolg, spielte monatelang im „Kleinen Theater” Unter den Linden und ging auf Tournee bis in die Schweiz.

Die politische Theaterarbeit der Gruppe fand mit Hitlers Regierungsantritt ein jähes Ende. Während der Razzia am 15. März 1933 durchsuchten SA-Leute auch die Wohnung der Ruschins. Steffie Spira wurde zum nächsten Polizeirevier gebracht, kurze Zeit später aber wieder freigelassen. Sie trat sogleich ihre Flucht in die Schweiz an. Ihren Mann, Günther Ruschin, hatten SA-Männer zum Polizeigefängnis am Alexanderplatz mitgenommen. Später kam er nach Moabit in Einzelhaft. Mitte Mai 1933 wurde er dort überraschend mangels Beweisen freigelassen. Er packte sofort seine Koffer und folgte seiner Frau nach Zürich. Später erfuhr er, daß zwei Stunden nach seiner Abreise SA erschienen war, um ihn in Schutzhaft zu überführen.

Von der Schweiz ging das Ehepaar Ruschin zu Fuß nach Frankreich. In Paris brachte Steffie Spira 1939 ihren Sohn zur Welt. Es ging der Familie damals ziemlich schlecht, zumal sie kaum Französisch sprachen. Dennoch spielte Steffie Spira weiter Theater, bis sie Ende 1939 für zwei Jahre in ein Internierungslager gebracht wurde, während man ihr ihr neugeborenes Kind wegnahm, ,,evakuierte”.

Mit großem Glück entging sie 1941 dem drohenden Abtransport nach Auschwitz, fand kurze Zeit darauf auch ihren Sohn und Mann wieder. Zu dritt traten sie im November 1941 von Marseille aus die Seereise ins Exil nach Mexiko an, wo sie mit Anna Seghers (S. 166) und Egon Erwin Kisch (S. 166) Freundschaft schlossen. 1947 kehrte die Familie Ruschin nach Berlin (Ost) zurück, wo Steffie Spira in die SED eintrat. Obwohl sie bis heute überzeugte Marxistin geblieben ist, forderte die populäre Schauspielerin bei der großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz mutig und entschieden die damalige DDR-Führung auf abzutreten.

Die Schriftstellerin Dinah Nelken (1900-1989) bekam durch die Vermittlung einer Freundin eine Wohnung in der Künstlerkolonie. Sie fühlte sich von der Gegend sehr angezogen, da dort lauter interessante Menschen lebten.

Unter dem Pseudonym Bernhardine Schneider schrieb sie einen Roman mit autobiographischen Zügen, ,,Eineinhalb-Zimmer-Wohnung“, der die Künstlerkolonie als lokalen Hintergrund verrät und noch im Jahr 1933 erschien.

Großes Aufsehen erweckte sie jedoch mit einem „literarischen Nebenprodukt”, dem kleinen Roman „Ich an Dich, Roman in Briefen für Liebende und solche, die es werden wollen.“, den sie zusammen mit ihrem Bruder Rolf Gera im ersten Jahr ihrer Emigration 1937 in Wien fertigstellte.

Dinah Nelken, die aus ihrer geschiedenen Ehe einen Sohn zu versorgen hatte, schloß sich dem Kommunisten Heinrich Ohlenmacher an, den sie später heiratete. Nach dem 30. Januar 1933 beteiligte sie sich an illegalen Aktionen gegen die Nazis. Auch als ihr Lebensgefährte verhaftet und in das KZ Esterwegen verschleppt wurde, blieb sie im Widerstand aktiv. Ihr Bruder Rolf Gera verließ Deutschland bereits 1933. Erst als 1936 Heinrich Ohlenmacher aus der KZ-Haft freikam, folgte Dinah Nelken mit ihrem Sohn und dem Lebensgefährten dem Bruder ins Wiener Exil.

Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich gelang es ihnen, nach Jugoslawien zu entkommen und sich auf der Insel Korcula zu verstecken.

Inzwischen wurde das völlig unpolitische Buch der Emigrantin mit jüdischem Namen „Ich an Dich” 1939 unter dem Titel „Eine Frau wie du” mit Brigitte Horney und Joachim Gottschalk (S. 134 f.) in den Hauptrollen verfilmt.


Dinah Nelken

1941, als deutsche und italienische Truppen Jugoslawien besetzten, unterstützten Dinah Nelken, Rolf Gera und Heinrich Ohlenmacher die Partisanen auf der Insel Korcula durch Nachrichtenschmuggel und Lebensmittelversorgung.

Als der Druck der Besatzer zu stark wurde, wich Dinah Nelken mit ihrem Bruder und dem Mann 1943 nach Italien aus. In Rom lebten sie während der deutschen Besatzung sieben Monate illegal und in ständiger Angst entdeckt zu werden. 1950 kehrte sie mit ihrem Mann nach West-Berlin zurück.

Eine herausragende Künstlerpersönlichkeit, die in der Künstlerkolonie lebte, war der Lyriker und Dramatiker Walter Hasenclever (1890-1940). Mit seinem Drama „Der Sohn” (1914) über den Vater-Sohn-Konflikt wurde er zur Identifikationsfigur für die rebellierende Jugend und zum Repräsentanten der expressionistischen Bewegung. Aufgrund seiner Fronterfahrungen im 1. Weltkrieg entwickelte er sich zu einem radikalen Pazifisten (Foto S. 21).

Von 1930-1933 lebte Hasenclever am Laubenheimer Platz 3. Zu Beginn der Diktatur setzten die Nazis seinen Namen auf die Liste der ausgebürgerten Intellektuellen. Sie nannten ihn einen „Asphalt-Literaten” und verboten und verbrannten seine Bücher. Sein Weg ins Exil führte ihn über Frankreich, Jugoslawien und Lon­on nach Italien. Wieder in Südfrankreich, wurde er zu Beginn des 2. Weltkrieg verhaftet. Er kam in das Lager „Les Milles“. Aus Angst vor den anrückenden deutschen Truppen setzte er 1940 mit einer Überdosis Veronal seinem Leben ein Ende.

Von 1931-1933 lebte in der Bonner Straße der Schriftsteller und Journalist Arthur Koestler (geb.1905): Als zionistischer Siedler war er 1926 nach Palästina gegangen und arbeitete drei Jahre lang als Auslandskorrespondent im Nahen Osten.

1930 wurde er Redakteur beim Ullstein-Verlag. 1931 nahm er an der Polarexpedition mit dem „Graf Zeppelin” teil.

Dieses Jahr ließ ihn aber auch politisch Stellung beziehen:

,,Nach der Septermberwahl des Jahres 1930 hatte ich miterlebt, wie der liberale Mittelstand seine Uberzeugungen verriet und alle seine Grundsätze über Bord warf.Aktiver Widerstand gegen die braune Flut schien _somit nur möglich, indem man sich entweder den Sozialdemokraten oder den Kommunisten anschloß. Ein Vergleich der Vergan­genheit dieser beiden, ihrer Energie und Entschlossenheit, schloß die ersteren aus und begünstigte die letzteren”. Arthur Koestler trat 1931 in die KPD ein und verlor daraufhin seine Stellung beim Ullstein-Verlag.

,,Nach dem Verlust meiner Stellung war ich frei von allen bürgerlichen Fesseln … Ich gab meine Wohnung in dem teuren Bezirk Neu-Westend auf und zog in eine Wohnung am Bonner-Platz (gemeint ist die Bonner Straße. Anm. d. V.); das Haus wurde der ,Rote Block’ genannt, da die meisten Mieter, meistens mittellose Schriftsteller und Künstler, für ihre radikalen politischen Ansichten bekannt waren. Dort trat ich der kommunistischen Straßenzelle bei und durfte endlich das richtige Leben eines regulären Parteimitglieds führen … Unsere Zelle hatte ungefähr zwanzig Mitglieder … Wir hatten mehrere Literaten unter uns, zum Beispiel Alfred Kantorowicz und Max Schroeder, den Psychologen Wilhelm Reich … einige Schauspieler des Avantgardtheaters, Die Mausefalle’ … “

 


Ernst Bloch                                                                   Arthur Koestler

1933 flüchtete auch Arthur Koestler ins Exil. Zuerst nach Paris, dann in die Schweiz. 1936 nahm er als Korrespondent am Spanischen Bürgerkrieg teil. Aufgrund sei­ner inzwischen gemachten Erfahrungen mit dem Kommunismus trat er 1937 aus der Partei wieder aus. Die spanischen Faschisten verurteilten Koestler zum Tode und hielten ihn vier Monate lang in Einzelhaft gefangen. Er hatte Glück, wurde ausgetauscht und 1940 in Frankreich interniert. Er erkaufte sich die Freiheit mit dem Eintritt in die französische Armee. Er lebt seit 1942 in London. Mit seinen Freunden, Bertrand Russel und George Orwell, wandte er sich immer wieder vehement gegen jede totalitäre Ideologie.

Sein Roman „Sonnenfinsternis” (1940) und seine politische Aufsatzsammlung „Der Yogi und der Kommissar” (1945) tragen auto­biographische Züge und sind Belege für seine persönlichen Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit dem Stalinismus.

Der Schriftsteller und Lyriker Martin Kessel (1901-1990) zog 1928/29 in die Kreuznacher Straße 48, wo er bis 1945 lebte. Nach dem 30. Januar 1933 wurde seine Wohnung zweimal durchsucht, er selbst blieb unbehelligt. Der zeitkritische Moralist schrieb über die Bewohner der Künstlerkolonie 1965 den grotesk-ironischen Roman „Lydia Faude“. Er erhielt den Berliner Kunstpreis (1961) und das Große Bundesverdienstkreuz.

In der Kreuznacher Straße 52 lebte einer der bedeutendsten modernen, deutschen Philosophen, Ernst Bloch (1885-1977). Von Marx und älteren Sozialutopien ausgehend, entwickelte er in den 20er Jahren „utopische Entwürfe einer sozialistischen Zukunft”, die sich später zu einem theologischen Weltprinzip wandelten. 1933 flohen Ernst Bloch und seine Frau Karola vor den Nationalsozialisten ins Exil. Nach den Stationen Wien, Paris und Prag lebten sie von 1938 bis 1949 in den USA. Bloch schrieb im Exil sein Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“, für das er in den Vereinigten Staaten keinen Verleger fand. 1939 wurde es zum ersten Mal in Mexiko in spanischer Übersetzung herausgegeben. Ohne weitere Aussicht auf Veröffentlichung setzte Bloch seine Arbeit in den Exiljahren im Verborgenen fort. 1937 schrieb er über die Situation in Deutschland:

“Möge man leise reden, es ist ein Sterbender im Zimmer. Die sterbende deutsche Kultur, sie hat im Innern Deutschlands nicht einmal Katakomben zur Verfügung. Nur noch Schreckenskammern, worin sie dem Gespött des Pöbels preisgegeben werden soll; ein Konzentrationslager mit Publikumsbesuch. Das wird toll und immer toller. Was tut nur ein ehrlicher, ein begabter Mensch in diesem Land. Sein einfaches Dasein ist ihm gefährlich, er muß es verstecken. Jede Art von Begabung ist ihrem Träger lebensgefährlich, außer der des Duckens. Unverhüllt wird Künstlern, die es sind, Kastrierung oder Zuchthaus angedroht; das ist kein Scherz, es gibt keinen Scherz aus sol­chem Munde. Man hat gelernt, das Lächerliche ernst zu nehmen”.
(Ernst Bloch, Gauklerfest unter dem Galgen)

Ernst Bloch kehrte 1949 nach Deutschland zurück und wurde zunächst Professor in Leipzig. Da er aber mit der Staatsdoktrin der DDR der 50er Jahre nicht überein­stimmte, erhielt er 1957 die Zwangsemeritierung. 1961 siedelte er in die Bundesrepublik über und bekam eine Professur an der Universität Tübingen.

Der spätere Minister für Kultur in der DDR (1954), Johannes R. Becher (1891- 1958), wohnte bis zu Hitlers Machtantritt in der Künstlerkolonie in der Laubenheimer Straße 2. Der expressionistische Lyriker, Dichter und Publizist hatte Philosophie und Medizin studiert und kam über die USPD (1917) und den Spartakusbund (1918) zur KPD. 1928 wurde er Vorsitzender des „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller” und zum Mitbegründer der Zeitschrift „Die Linkskurve“. 1925/26 war er in einem Prozeß wegen „Vorbereitung zum Hochverrat” angeklagt.

Sechs Jahre später, 1932, arbeitete er als Feuilleton-Redakteur der „Roten Fahne“. Der Kommunisten-Verfolgung durch die Nationalsozialisten entging er mit seiner Flucht ins Exil 1933. 1934 wurde Johannes R. Becher ausgebürgert. Sein Emigrantenweg führte ihn über Österreich, die Tschechoslowakei, die Schweiz und Frankreich 1935 in die Sowjetunion. Dort wurde er Chefredakteur der Zeitschrift „Internationale Literatur-Deutsche Blätter“. Nach dem Kriegsende kehrte Johannes R. Becher nach Berlin (Ost) zurück. Neben anderen Zeitschriften begründete er 1949 die bedeutendste Literatur-Zeitschrift derDDR „Sinn und Form“. Außerdem war er Präsident des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands” in Ost-Berlin und seit 1954 Minister für Kultur. In seiner Rolle als Repräsentant des SED-Regimes blieb er bis heute umstritten.

In der Kreuznacher Straße 34 lebte der Schauspieler, Schriftsteller und Graphiker Erich Weinert (1890-1953). Er trat 1923 im Berliner Kabarett „KüKa” auf und galt als populärer Rezitator, der mit dem Vortrag von Gedichten Massen begeistern konnte. Seit 1924 schrieb er für zahlreiche linksgerichtete Blätter, so die „Weltbühne”, ,,Simplizissimus”, ,,Lachen Links” und den „Eulenspiegel“. Er war in einem Prozeß wegen Gotteslästerung angeklagt und erhielt Redeverbot. 1933 führte ihn der Weg ins Exil über die Schweiz nach Paris, ins Saargebiet, das damals noch dem Völkerbund unterstand, und 1935 nach Moskau. Er nahm 1937/38 am Spanischen Bürgerkrieg teil. Zu Beginn des 2. Weltkriegs wurde er in Südfrankreich interniert. Er erhielt politisches Asyl in der Sowjetunion, wo er von 1943-1945 Präsi­dent des „Nationalkomitees Freies Deutschland” (NKFD) war. 1946 kehrte er nach Berlin (Ost) zurück und wurde Vizepräsident der Zentralverwaltung für Volksbildung in der DDR.

Er schrieb engagierte Lyrik und Prosa gegen Militarismus, Nationalsozialismus und Faschismus, so z. B. ,,Der Tod fürs Vaterland” (Szenen, 1942) und „Erziehung vor Stalingrad” (Fronttagebuch, 1943) (Foto S. 24).


Erich Weinert

Ernst Bloch

Der Sänger und Schauspieler Ernst Busch (1900-1980) kam 1927 nach Berlin. Er spielte unter Erwin Piscator und lernte auf der Bühne Hans Eisler kennen. Aus der Begegnung entwickelte sich eine lebenslange Zusammenarbeit und Freundschaft. Eislers Kompositionen und Buschs gesangliche Interpretationen wurden zu einem Symbol der Arbeitermusikbewegung. Gleich zu Beginn der 30er Jahre zog Ernst Busch mit seiner Frau Eva in die Bonner Straße 11. Aufgrund seiner politischen Lieder (,,Roter Wedding“) erhielt er den Spitznamen „Barrikaden-Tauber“. Eine Hausdurchsuchung Anfang März 1933 in der Künstlerkolonie verschlief Ernst Busch unbeschadet in seiner Wohnung. Die SA glaubte nicht daran, daß der Künstler sich noch in Berlin aufhalten könnte.

Er flüchtete ins Exil über Holland, Belgien, Zürich, Paris und nach Wien, schließlich in die Sowjetunion. Wie viele Gleichgesinnte ging Busch 1937 nach Sanien und schloß sich den Internationalen Brigaden an. Nach Francos Sieg kehrte Busch nach Belgien zurück. Als die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 in Belgien und den Niederlanden einmarschierte, wurde Ernst Busch zusammen mit vielen anderen deutschen Emigranten interniert, 1943 nach einem Fluchtversuch an der Schweizer Grenze verhaftet und der Gestapo ausgeliefert.

Die Anklage gegen ihn in Berlin lautete „Vorbereitung zum Hochverrat”, und er sollte zum Tode verurteilt werden. Durch die Fürsprache des Schauspielers und Intendanten Gustaf Gründgens – den Klaus Mann (S. 167) in seinem Roman „Mephisto” (1936) als Opportunisten und Mitläufer der NS-Zeit darstellte – erhielt Busch jedoch „nur” eine vierjährige Zuchthausstrafe.

Im April 1945 befreite ihn die sowjetische Armee aus dem Zuchthaus Brandenburg. 1951 zog er nach Ost-Berlin und arbeitete unter Bertolt Brechts Regie im Berliner Ensemble. Er war einer der beliebtesten Schauspieler und Sänger in der DDR, blieb aber für den SED-Staat ein politisch unabhängiger und unbequemer Mann.

Zugehörigkeit von Bewohnern der Künstlerkolonie zu
kommunistischen Widerstandskreisen nach 1939

Obwohl die Nationalsozialisten gleich zu Beginn ihrer Diktatur alle bekannten Künstler und Intellektuellen aus der Künstlerkolonie vertrieben, konnten sie den Widerstand nie ganz unterdrücken.

In der Wohnung von Alexander Graf Stenbock-Fermor (1902-1972) am Laubenheimer Platz 5 wurde im Herbst 1940 die Widerstandsgruppe „Revolutionäre Arbeiter und Soldaten” (RAS) gegründet.

Stenbock-Fermor hatte 1922/23 als Bergarbeiter im Ruhrgebiet gearbeitet und sich vom Konservativen zum Marxisten gewandelt. Seit 1929 lebte er als freier Schriftsteller in Berlin und kam nach 1933 mehrmals in „Schutzhaft”. Er erhielt Berufsverbot und seine Ausbürgerung.

Stenbock-Fermor brachte in seiner Wohnung den ehemaligen Freikorpsführer Josef (Beppo) Römer (1892-1944) und den Kommunisten Willy Sachse (1896- 1944) zusammen. In seiner Autobiographie „Der Rote Graf” (1973) schrieb er :

„In unserer Wohnung am Laubenheimer Platz 5 trafen sich Römer und Sachse zum ersten Mal. Diese gegensätzlichen Naturen spürten bald ihre Zusammengehörigkeit. Nach einer langen politischen Diskussion fand man die gemeinsame Plattform. Das Ergebnis war eine Widerstandsgruppe, die sich später RAS nannte, ,Revolutionäre Arbeiter und Soldaten’. Uns war klar, daß die Gruppe kleln gehalten werden mußte. Aufnahme nur von Freunden, denen man absolut vertrauen durfte. Beim Verfassen von illegalen Flugschriften mußten die Autoren der Texte streng von den technischen Herstellern und Verbreitern getrennt werden”.

Beppo Römer näherte sich in seiner politischen Einstellung in den späten zwanziger Jahren der KPD und gab die Zeitschrift „Aufbruch” heraus, um die sich ein Kreis von Linksintellektuellen sammelte. Insgesamt verbrachte Römer von 1933- 1939 mehrere Jahre in Untersuchungs- und KZ-Haft, u. a. im berüchtigten Columbiahaus. Römer stand in Kontakt zu Nikolaus von Halem, der wiederum Verbindung zu Adam von Trott zu Salz, Justus Delbrück und Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg hielt.

Der Schriftsteller Willy Sachse gehörte zu einer kommunistischen Widerstandsgruppe im Berliner Norden. Die illegalen Schriften der Gruppe RAS wurden auf dem Gelände des Segelclubs ,,Wiking” in Tegel hergestellt. Weitere Mitglieder der Gruppe waren der Schauspieler Hans Meyer-Hanno mit seiner Frau lrene, der Arbeiter Fritz Riedel und Alja Blomberg.

Stenbock-Fermor schrieb dazu in seinen Erinnerungen: ,,

Wir trafen uns abwechselnd bei mir, in der Wohnung von Alja Blomberg am Südwestkorso und oft bei Meyer-Hanno am Laubenheimer Platz 2. Hans Mayer-Hanno und seine Frau lrene wurden die eifrigsten Mitarbeiter. Wir verfaßten Texte für antifaschistische Flugblätter und Flugschriften”.


Alexander Graf Stenbock-Femor

Josef Römer

Ab Ostern 1941 wurde die Wohnung von Josef (Beppo) Römer in der Mansfelder Straße 23 bei Hildegard Goetz, seiner späteren Frau, der überwiegende Treffpunkt der Gruppe. Die wichtigste illegale Flugschrift war der „Informationsdienst“, eine anspruchsvolle Untergrundzeitschrift, die Römer herausgab.

Verschickt wurden die Schriften von verschiedenen Postämtern aus an Adressen in Deutschland und im Ausland, ja sogar an die Front unter Feldpostnummern. Der „Informationsdienst” erschien 1941 fast jeden Monat. Die Zielsetzung der Autoren war, der Kriegsvorbereitung gegen die Sowjetunion militärisch-politische Argumente entgegenzusetzen.

Im Herbst 1941 stellte der Widerstandskreis um Römer Verbindung zu Robert Uhrig her, der um 1940 als Kopf des kommunistischen Widerstands in Berlin galt. Uhrig konnte über Römer seine Verbindung nach München und schließlich bis Tirol ausdehnen.

Anfang 1942 deckte die Gestapo den Römer-Kreis auf. Josef Römer, Willy Sachse und Fritz Riedel wurden zum Tode verurteilt und im Spätsommer 1944 hingerichtet.

Hans Meyer-Hanno, der der Verhaftungswelle entgangen war, schloß sich der Widerstandsorganisation um Anton Saefkow und Franz Jacob an, die eine der größten illegalen Gruppen mit den weitreichendsten Verbindungen war.

Da Meyer-Hanno als Schauspieler zu bekannt war, blieb er in der Widerstands­ arbeit mehr im Hintergrund; so durfte er bei größeren Zusammenkünften nicht anwesend sein.

Als die Gestapo Ende Juli 1944 die Saefkow-Gruppe auflöste, wurde er verhaftet und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Es war eine verhältnismäßig geringe Strafe, da Meyer-Hanno nur zum „äußeren Ring” der Gruppe gehörte und sich auf Nichtwissen berufen konnte. Seine Verurteilung lautete: wegen „Nichtanzeigens eines hochverräterischen Unternehmens”.

Über das Ende seines Freundes Hans Meyer-Hanno schrieb Alexander Graf Stenbock-Fermor:

,,Im Zuchthaus Bautzen erhielt er eine leichte Tatigkeit im Büro. Ende April 1945 wurden die Häftlinge plötzlich mobilisiert, in eine Luftabwehrkaserne in der Nähe geführt, militärisch notdürftig eingekleidet und bewaffnet … Hans Meyer-Hanno versuchte, über die Mauer zu klettern, schrie: ,Ich schieße auf keinen Menschen!’ Das waren seine letzten Worte, er fiel unter den Kugeln der SS. Seine Frau lrene konnte, wie durch ein Wunder, Verschleppung und Vergasung entgehen “.

Alexander Graf Stenbock-Fermor war 1945/46 Oberbürgermeister von Neustrelitz und lebte seit 1947 als Film- und Fernsehautor in Berlin (West).

HIife für Verfolgte

Helene Jacobs (Bonner Straße 2) und Dr. Franz Kaufmann (Hobrechtstraße 3)

Helene Jacobs (1906-1993) zog 1934 in eine Wohnung in der Bonner Straße 2. Etwa zur gleichen Zeit trat sie in die Bekennende Kirche ein. Sie nahm regelmäßig an den Veranstaltungen der Dahlemer Gemeinde teil und traf dort Pfarrer Niemöller sowie Pastor Gollwitzer. (Siehe die Steglitz/Zehlendorf-Darstellung dieser Schriftenreihe.)

Helene Jacobs erinnert sich 1986 in einem Gespräch mit H.-R. Sandvoß:

„Als ich 1934 auf Wohnungssuche war, kam ich auch in die ehemalige, rote Künstlerkolonie’. Viele der früheren Mieter waren bereits emigriert oder hatten, da sie kein Engagement erhielten, das Quartier wechseln müssen. Und trotzdem: Es roch hier mehr nach Menschlichkeit – irgendwie habe ich es gespürt! Ich wußte zu diesem Zeitpunkt nicht, daß meine Chance, eine Wohnung zu erhalten, damit zusammenhing, daß andere Menschen ,rausgeekelt’ worden waren.

Noch wohnten auch Schauspieler hier, zum Beispiel Joachim Gottschalk, wie ich hörte. In der Umgebung der Siedlung existierten damals noch Schrebergärten. In den Wohnungen gab es Heizung und warmes Wasser. Zudem befand sich alles in ruhiger Lage, und die Mieten waren nicht allzu hoch. Dies alles sprach mich an. Daß ein Koestler oder Weinert hier gewohnt hatten, war mir beim Einzug unbekannt – und es lag scheinbar weit zurück.

Natürlich wohnten auch Nazis hier, zum Beispiel im Nebenhaus jemand, der für den ,Völkischen Beobachter’ schrieb. Aber sie waren augenscheinlich nicht so bösartig, sondern ,nur’ auf ihren Vorteil aus, wie etwa die Erhaltung des Arbeitsplatzes. Man hat gespürt, daß viele Bewohner keine Nazis waren. Man merkte es auch an der Art, wie sie sich bewegten: es wurde nicht mit ,Heil Hitler’ gegrüßt! Andererseits bestand aber auch keine riesige Verbundenheit (oder gar Hilfsbereitschaft für Verfolgte) unter der Mieterschaft, und vor dem Luftschutzwart, Frau Dr. Günther, mußte man sich schon in acht nehmen!”.

Beruflich war Helene Jacobs bei einem jüdischen Patentanwalt, Dr. Barschall, tätig. Er konnte bis 1938 praktizieren, mußte sich jedoch nach dem Judenpogrom verstecken. Zeitweise nahm Helene Jacobs ihn in ihrer Wohnung auf. Monatelang bereitete sie die Ausreise von Dr. Barschall und seiner Familie vor. Sie fuhr nach Amsterdam, um einen Teil des dortigen Vermögens der Familie vor dem Zugriff der Gestapo zu retten. Sie fuhr nach England, um dort einen Zwischenaufenthalt für die Familie zu organisieren, bevor sie die Einreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten erhielten. Im Juli 1939 emigrierte die Familie Barschall schließlich über Holland nach England und später nach Amerika.

In der Friedenauer Gemeinde „Zum guten Hirten” lernte Helene Jacobs die Schriftstellerin Etta von Oertzen kennen. Mit ihr zusammen gelang es, einige Juden vor der Deportation zu bewahren, indem ausländische Diplomaten die Bedrohten in ihren Haushalten vorübergehend als Bedienstete anstellten.


Helene Jacobs (1938)

Als 1940 in Stettin die ersten Juden deportiert wurden, bildete sich in der Dahlemer Gemeinde eine Gruppe von Frauen, die eine Paketaktion nach Polen organisierte. Große, wertvolle Pakete mit Lebensmitteln und Kleidung kamen zusammen und wurden von den Frauen verschickt. Frau Jacobs stellte für viele Pakete ihren Namen und ihre Anschrift als Absender zu Verfügung. So kam es, daß sie 1941 ihre erste Vorladung von der Gestapo erhielt. Die Paketaktion mußte daraufhin eingestellt werden.

In einer von Pastor Gollwitzer gegründeten Arbeitsgemeinschaft über Karl Barths Theologie lernte Helene Jacobs 1940 (1886-1944) kennen. Der Jurist war getaufter Jude und lebte in einer sogenannten „privilegierten Mischehe”, die ihn zunächst vor Verfolgung schützte. Franz Kaufmann war Oberregierungsrat am Rechnungshof gewesen, bis er 1936 als „Jude” zwangspensioniert wurde. Kaufmann, der in Halensee in der Hobrechtstraße 3 wohnte, war aktives Mitglied der Dahlemer BK, nahm aber auch Anteil an der Arbeit der Halenseer Bekenntnisgemeinde. Er wollte nicht nur über Gottes Wort reden, sondern auch danach handeln. Ein Schlüsselerlebnis für ihn wurde, als er von der Deportation eines ihm bekannten Ehepaares erfuhr.

Die Tochter hatte ihm erzählt, wie ein „korrekt wirkender Beamter” die Eltern aus der Wohnung abgeholt hat. Hinter diesem banal scheinenden Vorgang erblickte Kaufmann die ganze Tragik des Geschehens: ,,Und wir”, fragte er „sind auch wir imstande, dies alles geschehen zu lassen, diesem gehorsamen Staatsbürger … und unseresgleichen ein ruhiges Gewissen zu lassen, als wenn nichts geschehen wäre?”


Franz Kaufmann

Innerhalb der Arbeitsgemeinschaft machte er als erster den riskanten Vorschlag, Juden zu verstecken. Er stieß dabei vor allem auf Zustimmung einer Gruppe couragierter Frauen.

Dies waren, neben Helene Jacobs, Hildegard Schaeder, Hildegard Jacoby und Gertrud Staewen, eine Freundin Karl Barths.

Helene Jacobs in der Bonner Straße 2 konnten die Untergetauchten zeitweise bleiben. Frau Jacobs kaufte für sie im Metzgerladen Schröder in der Eisenacher Straße ein, denn Herr Schröder versorgte heimlich jüdische Familien mit zusätzlichen Fleischrationen.

Da die Spenden von Lebensmittelkarten im Kreis um Dr. Franz Kaufmann nicht ausreichten, mußten sie illegal besorgt und gefälscht werden. Aber auch Postausweise, Führerscheine, Werkausweise, Kennkarten und Pässe wurden im Auftrag Dr. Kaufmanns teilweise auf dem Schwarzmarkt besorgt. Die Fälscherarbeit leistete ein jüdischer Graphiker mit dem Decknamen Günther Rogoff. Während des Jahres 1942 zeichnete er auf den Ausweisdokumenten und ausgewechselten Bildern den Stempel täuschend ähnlich nach. Als Rogoff Ende 1942 selbst steckbrieflich in Berlin gesucht wurde, nahm Helene Jacobs ihn für etwa acht Monate illegal in ihrer Wohnung auf. Er setzte dort seine Fälscherarbeit fort. Frau Jacobs übermittelte ihm die zu verändernden Ausweise und Bilder und brachte die „neuen” Ausweise den Verfolgten, die sich damit tagsüber bei Kontrollen ausweisen konnten.

Aufgrund einer anonymen Denunziation flog die Gruppe im Sommer 1943 auf. Die Gestapo verhaftete im August Dr. Franz Kaufmann und hielt ihn über sechs Monate im KZ Sachsenhausen gefangen, wo er nach qualvollen Verhören und schweren Mißhandlungen am 17. Februar 1944 ohne Gerichtsverfahren erschossen wurde. Er hat die Namen seiner Helfer nicht preisgegeben.

Insgesamt wurden etwa 50 Personen verhaftet. Hildegard Schaeder kam bis zur Befreiung 1945 ins KZ Ravensbrück. Gertrud Staewen konnte sich ihrer Verhaftung rechtzeitig entziehen. Helene Jacobs wurde am 17.August 1943 verhaftet, als sie Dr. Franz Kaufmann am U-Bahnhof Breitenbachplatz treffen wollte. Es gelang ihr, die Gestapo durch ein Täuschungsmanöver so lange von ihrer Wohnung fernzuhalten, bis der dort illegal sich aufhaltende Günther Rogoff geflohen war.

Das Berliner Sondergericht 111 verhängte im Januar 1944 gegen Frau Jacobs und Hildegard Jacoby sowie zehn weitere Angeklagte Zuchthaus- und Gefängnisstrafen. Frau Jacobs erhielt 2½ Jahre Zuchthaus und Hildegard Jacoby 1 ½ Jahre Gefängnis. In der Haft erkrankte Frau Jacoby schwer an Angina pectoris. Sie wurde am 2. Juni 1944 vorzeitig aus der Haft entlassen und starb noch am selben Tag. (Helene Jacobs erhielt die Buber-Rosenzweig-Medaille der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit.)

 

Josi von Koskull: Eine Oppositionelle im Umfeld der Künstlerkolonie

Die Bibliothekarin und Schriftstellerin Josi Baronesse von Koskull (geb. 1897) wohnt in der Wetzlarer Straße 13 und kannte seit ihrer Vertreibung aus dem Baltikum zu Beginn des ersten Weltkrieges Alexander Graf Stenbock-Fermor (S. 25 f.). Da das Vermögen ihrer Familie beschlagnahmt worden war, mußte Frau von Koskull ihren Lebensunterhalt selber verdienen. Von 1924-1939 arbeitete sie beim „Berliner Börsenkurier” in der Handelsredaktion. 1939 wurde sie zur Briefzensur eingezogen, da sie viele Sprachen, u. a. Russisch und Französisch fließend von Kindheit an sprechen konnte.

Als Frau von Koskull 1931 in die Nähe der Künstlerkolonie zog, traf sie dort zufällig ihren Landsmann Alexander Graf Stenbock-Fermor wieder.

,,Wir sind unabhängig voneinander hierher gezogen. Er war Kommunist. Ich hatte auch sehr linke Ansichten, weil die Rechten eben die Nazis waren. Da wich man gerne aus”. (Josi von Koskull am 30.Juli 1990)

Weiter erinnert sich Frau von Koskull an die Atmosphäre, die von der Künstlerkolonie ausstrahlte:

,,Am Rüdesheimer Platz gab es ein Lokal, wo sich die Künstler gerne trafen. Die Stühle standen draußen im Sommer, es war preiswert und gut, da lernte man sich kennen“.

1941 traf Frau von Koskull Beppo Römer bei Alexander Stenbock-Fermor. Sie wußte von Stenbock-Fermors Untergrundarbeit.

Darüber hinaus war Frau von Koskull mit dem Architekten Dr.-lng. Erich Gloeden und dessen Frau Dr.jur. Lieselotte Gloeden befreundet. Das Ehepaar lebte in der Kastanienallee 23 in Charlottenburg und half, obwohl selbst als „Mischlinge 1.Grades” eingestuft, verfolgten Juden. Sie beschafften falsche Ausweispapiere und halfen beim „Untertauchen”.

Vom 29. Juli bis zum 3. September 1944 hielt sich in der Wohnung der Gloedens General Fritz Lindemann versteckt. Lindemann gehörte seit 1943 zum Verschwörerkreis um Henning von Tresckow und Stauffenberg. Nach dem 20.Juli 1944 beschloß er unterzutauchen. Bald darauf wurde er steckbrieflich gesucht und eine Belohnung von 500 000 RM auf seine Ergreifung ausgesetzt. In dieser Zeit gab Frau von Koskull in der Wohnung der Gloedens dem untergetauchten General Russisch-Unterricht, da Lindemann beabsichtigte, an der Ostfront überzulaufen und mit dem Nationalkomitee Freies Deutschland zusammenzuarbeiten. Frau von Koskull gelang es Ende August 1944 in der Briefzensur einen Hilferuf in russischer Sprache an die sowjetische Botschafterin in Schweden, Alekxandra Kollontai, zur Weitervermittlung an General Seydlitz in Moskau zu schmuggeln. Lindemann und seine Helfer wurden wenige Tage später denunziert.

Am Nachmittag des 3.September 1944 war Frau von Koskull in der Kastanienallee 23. Sie erinnert sich:

„Ich war bei Gloedens, meinen langjährigen Freunden, als die Gestapo uns alle verhaftete. Lindemann wollte aus dem Fenster springen. Man schoß auf ihn, er blutete sehr stark, starb (später) im Krankenhaus. Die Gloedens und ich kamen zum Verhör in die Prinz-Albrecht-Straße. Dann in das Gefängnis am Alexanderplatz. Ich hatte drei lange Verhöre zu überstehen, log mich frei, behauptete, L. nur als „Herrn Exner” zu kennen. Man ließ mich laufen. Beide Gloedens … wurden mit dem Beil hingerichtet im Dezember 1944″.

Obwohl Frau von Koskull sehr wohl um die Identität Lindemanns wußte und Lebensmittelmarken für ihn besorgt hatte, war sie offenbar in der Auslandsbriefprüfstelle zum einen unabkömmlich, zum anderen lagen keine eindeutigen Beweise gegen sie vor. Insofern kam sie als einzige der Beteiligten mit dem Leben davon.

mit freundlicher Genehmigung durch

© Felicitas Bothe von Richthofen

Aus Band 7 der Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945