Wolfgang Leonhard

Erinnern Sie sich an Wolfgang Leonhard ?

Wolfgang Leonhard, langjähriger Bewohner der Berliner Künstlerkolonie, war ein deutscher Historiker. Er galt als einer der führenden Kenner der Sowjetunion, der DDR und des Kommunismus. Leonhard war Mitglied der Gruppe Ulbricht und wurde bekannt auch durch seinen Bestseller ‚Die Revolution entläßt ihre Kinder‘.

Wir erinnern an Wolfgang Leonhard mit einem Interview welches 2007 in der Berliner Morgenpost erschien.

Lebenslänglich DDR

Wolfgang Leonhard ist letzter Überlebender der Gruppe Ulbricht, die nach 1945 den Sozialismus in Deutschland installierte.

Wolfgang Leonhard ist letzter Überlebender der Gruppe Ulbricht, die nach 1945 den Sozialismus in Deutschland installierte. Ein Gespräch über den SED-Staat, die Einheit und die Vorzüge einer großen Bibliothek

Berliner Illustrirte Zeitung: Herr Leonhard, Sie sind einer der führenden Kenner der ehemaligen Sowjetunion und des Kommunismus. Sie leben in dem kleinen Ort Manderscheid in der Eifel. Warum ausgerechnet dort?

Leonhard: Das ist Zufall. Ich habe einmal Freunde in der Eifel besucht. Ich kann hier in Ruhe meine Bücher schreiben und meine gewaltige Bibliothek genießen. Ich darf daran erinnern, dass Werner Höfer aus einem Eifelort kommt und Mario Adorf ebenfalls. Es gibt hier also durchaus interessante Persönlichkeiten.

Ihr neues Buch trägt den Titel „Meine Geschichte der DDR„. Was ist das Persönliche daran?

In den fünf Jahren von 1945 bis 1949 habe ich persönlich am Aufbau des Systems der Sowjetzone mitgewirkt. Dieser Zeitraum wird heute oft übersehen, weil nur noch wenige Zeitzeugen davon berichten können. Und auch nach meiner Flucht habe ich die DDR niemals von außen erlebt.

Wie meinen Sie das? Sie sind doch erst nach der Wende zurückgekehrt, 40 Jahre später.

Wo immer ich gewesen bin, war die DDR mein Hauptthema. Ich lebe seit 1950 in der Bundesrepublik – und doch habe ich über sie noch nie einen Artikel geschrieben, geschweige denn ein Buch. Anders die DDR. Meine Bibliothek hier in Manderscheid hat an die 6000 Bücher, davon kaum welche über den Westen oder die Bundesrepublik. Es gibt nur Bücher über die Sowjetunion, den internationalen Kommunismus – und vor allem: riesige Wände voller Bücher über die DDR.

Sonst nichts?

Einiges mehr. Ich habe zum Beispiel vom 1. Januar 1952 an alle Nummern der „Prawda“, bis 1991, immer eingebunden in Vierteljahresbände. Als diese Zeitung ihr Erscheinen einstellte, war das ein schmerzlicher Verlust für mich. Alle Nummern des „Neuen Deutschlands“ habe ich auch – für den ständigen Vergleich Sowjetunion/DDR.

Fühlen Sie sich in der Eifel nicht manchmal ein bisschen im weltpolitischen Abseits?

Orte sind für mich nicht so wichtig. Ich bin kein Reporter, der auf Impressionen angewiesen ist. Ich habe nichts gegen Reporter, aber was sie schreiben, ist unvollständig. Reporter können nur erzählen, was sie sehen und hören. Im Hinblick auf die diktatorische Zeit muss man jedoch analysieren, und das kann man nur, wenn man Parteitagsresolutionen ganz genau liest, nach Hinweisen fahndet auf Schwierigkeiten und Widersprüche, die auch in offiziellen Berichten der Parteiführung mitunter zu erkennen sind.

Wie erlebten Sie Ihre Jahre in der Sowjetischen Besatzungszone? Wann war der Punkt erreicht, als Sie erkannten, dass Sie auswandern mussten?

Ich würde zwei Perioden unterscheiden: zunächst eine antifaschistisch-demokratische, die bis zum Frühjahr 1948 dauerte. Sie war im Wesentlichen mit den Namen Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl verknüpft.

Dann kam die Währungsreform in den Westzonen.

Für mich ein ziemlich unwichtiges Ereignis.

Warum? Sie führte immerhin zur Berlin-Blockade.

Ja, aber für mich war viel wichtiger, was am 16. April 1948 passierte. Es war die fünfstündige Rede Walter Ulbrichts an der SED-Parteihochschule. Mit ihr wurde der Weg in den Einparteienstaat geebnet. Das war auch der Moment, der mir die Augen geöffnet hat. In seiner Rede betonte Ulbricht, die SED sei nun die führende Kraft, und es sei ihre Aufgabe, mithilfe des Staatsapparates unsere eigenen Ziele durchsetzen. Mir wurde heiß und kalt bei diesem Vortrag. Mir war klar: Jetzt gibt es keinen antifaschistisch-demokratischen Block mehr. Jetzt beginnt die verschärfte Angleichung an das stalinistische System der Sowjetunion. Jetzt kam die zweite Periode: die bürokratische Diktatur. Ich erkannte: Hier ist nicht mein Platz.

Aber Sie hatten ja schon vorher genug Gelegenheit, Walter Ulbricht zu beobachten. Sie kannten diesen Mann und seinen Charakter. Wieso waren Sie überrascht?

Bei Ulbricht als Person war ich keineswegs überrascht. Aber bis 1948 waren Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl entscheidend, und Ulbricht musste dieses Kräfteverhältnis berücksichtigen.

Sie haben es noch einige Wochen in Berlin ausgehalten.

Bis zum Sommer 1949. Da wurde mir endgültig klar: Wir werden zu einer Provinz der Sowjetunion unter Stalin. Damit gehörte ich der Opposition an. Im Sommer 1948 kam dann Titos offener Bruch mit dem stalinistischen System…

… Sie flohen nach Jugoslawien, waren bei Radio Belgrad Leiter der deutschsprachigen Sendungen und sind von da aus im November in die Bundesrepublik gekommen. Wie haben Sie diesen Staat erlebt?

Ich habe mich ein bisschen fremd gefühlt.

Inwiefern?

Die Mentalität war mir fremd. Ich habe mich in Jugoslawien viel mehr zu Hause gefühlt als in dieser Bundesrepublik. Mein Hauptthema blieb die DDR. Sehr schnell gelang es mir, bei der Zeitschrift „SBZ-Archiv“ eingestellt zu werden. Das war die Zeitschrift über die DDR, in der ich mich mit diesem Staat befassen konnte. Ich bin aber auch immer wieder nach Jugoslawien gefahren, zu meinen Freunden. Dort habe ich auch den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 erlebt.

Welche Bedeutung hat der Aufstand für Sie im Rückblick?

Eine außerordentliche – wenn man endlich von dem engen Begriff DDR absieht. Mit dem 17. Juni 1953 begannen die Aufstände gegen die bürokratischen Diktaturen in Mittel- und Südosteuropa. Er war ein Fanal, das weitergetragen wurde mit dem 20. Parteitag der KPdSU 1956, mit dem polnischen Oktober, mit der gewaltigen ungarischen Revolution, dem Prager Frühling 1968, schließlich der polnischen Solidarnosc-Bewegung – das ist eine Kette. Diese Kette gab mir Hoffnung. Seit den 60er-Jahren war ich der festen Überzeugung, dass das weitergeht und das System zusammenbricht.

Eine wichtige Zäsur der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte ist der 13. August 1961. Wo waren Sie, als die Mauer gebaut wurde?

Ich war zu Gast bei Werner Höfer im „Internationalen Frühschoppen“. Ich und die anderen Diskussionsteilnehmer kamen also so um zehn, halb elf da an, und da lief gerade die Nachricht vom Mauerbau über den Ticker. Dann diskutierten wir live darüber, noch während es geschah. Ich weiß noch, wie ich sagte: Es kommt jetzt auf die nächsten Stunden an. Wenn in den nächsten Stunden der Bau nicht abgestoppt wird, wenn es nicht zu Gegenmaßnahmen kommt, dann wird die Mauer für Jahre existieren.

Wie erlebten Sie die Reaktion des Westens?

Die Idee lautete leider: Wir lassen sie gewähren, oder es kommt zum Krieg. Das war eine primitive Betrachtung, man sah immer nur Extreme. Es grassierte die Idee, man müsse den Realitäten ins Auge sehen.

„Wandel durch Annäherung“, von Egon Bahr geprägt bei seiner berühmten Tutzinger Rede 1963, wurde zum Slogan der Neuen Ostpolitik.

Dafür war ich auch. Aber dann hieß es: Wir können den Zustand nur verändern, wenn wir Konzessionen an das DDR-System machen. Das konnte ich verstehen, nur wollte ich die Reihenfolge etwas verändern. Eine Diktatur kann man nicht verändern, indem man sich annähert. Annäherung bei Wandel: Das wäre die richtige Losung gewesen.

Über Herbert Wehner schreiben Sie: „Innerhalb kürzester Zeit wurde aus einer Freundschaft die härteste Ablehnung“. Wie kam es dazu?

Ich habe mich natürlich mit Herbert Wehner am meisten verbunden gefühlt, als ich im November 1950 in die Bundesrepublik kam. Er hatte Sachkenntnis; ich fand es sehr gut, dass man in der SPD an wichtiger Stelle jemanden hatte, der sich genau mit der Sowjetunion Stalins auskannte. Doch dann musste ich entdecken, dass er das Ostbüro bekämpfte – die organisatorische Basis der geflüchteten Parteiführer und Mitglieder der SPD nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED. Mit dem Ostbüro war ich sehr verbunden, die schleusten kritische Materialien in die DDR ein. Leute wie Hermann Weber und ich schrieben für das Ostbüro, weckten Nachdenklichkeit und Kritik gegenüber dem System. Und das hat Herbert Wehner unterdrückt. Für mich eine sehr große Enttäuschung.

1987 waren Sie erstmals wieder in der Sowjetunion. Wie war das für Sie?

Ich war 21 Jahre lang Professor an der Yale-Universität in New Haven, von 1966 bis zum Juli 1987. Ich hatte über 30 Jahre auf Reformen in der Sowjetunion gewartet, unter Gorbatschow schienen sie mir nun erkennbar zu sein. Im Juli 1987 hatte ich die Gelegenheit, die Reformbewegung mitzuerleben. Ich begleitete den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und Außenminister Hans-Dietrich Genscher nach Moskau. Es war atemberaubend.

Haben Sie nicht bei Ihrem ersten Besuch Angst gehabt? In derselben Stadt war 50 Jahre zuvor Ihre Mutter entführt worden.

Es war sehr widerspruchsvoll. Zum einen war die Stimmung viel gelöster. Am Flughafen, als wir ankamen, gab es jedoch eine gespenstische Situation. „Willkommen, Herr Bundespräsident“, stand da auf Transparenten.

Und?

Das war ja sehr schön. Aber es war auf rotes Tuch mit weißer Schrift gemalt, wie zu sowjetischen Zeiten. Als ich das letzte Mal solche Transparente gesehen hatte, hatte „Tod den trotzkistischen Spionen“ darauf gestanden.

Die Symbole waren noch die alten.

Man war hin- und hergerissen zwischen der Freude über die positiven Veränderungen und der Erkenntnis, dass die alten Kräfte doch noch sehr stark sind. Und in diesem Widerspruch habe ich die Jahre nach 1987 erlebt. Ich habe nicht gezweifelt an den Reformfähigkeiten und -wünschen der Führung, aber kannte doch sehr gut die bürokratischen Gegenkräfte.

Im Herbst 1989 betraten Sie dann den Boden der DDR. Wie war das?

Ich wurde jubelnd empfangen – als erster Dissident der DDR.

Sehen Sie sich in einer Linie mit Ernst Bloch und Robert Havemann?

Absolut. Ich sehe mich als Bindeglied zu den späteren Dissidenten. In erster Linie aber eng verbunden mit Ernst Bloch. Später ist er ja auch geflohen, 1961, und da haben wir uns im Westen und in Jugoslawien getroffen.

Mit welchen Gefühlen blicken Sie heute auf den Verlauf der deutschen Einheit zurück?

Es stimmt mich traurig, dass die Menschen, die so mutig waren, gegen die Diktatur aufzustehen und eine friedliche Revolution einzuleiten, mehr und mehr isoliert wurden. Von meinem Standpunkt aus war das eine überhastete Vereinigung.

Was trennt Ost und West heute?

Alle westlichen Vorurteile gegenüber der DDR-Bevölkerung sind heute stärker. Und umgekehrt gilt das auch, vielleicht noch mehr.

Vor ein paar Wochen wurde der Film „Das Leben der Anderen“ mit einem Oscar ausgezeichnet. Haben Sie ihn gesehen?

Ja. Ich finde ihn ausgezeichnet, weil er all die Widersprüche des Systems und der Menschen in ihm zeigt. Wandlungen: Das ist das Entscheidende für Menschen, die in einer Diktatur leben, noch dazu in einer solchen.

Der Film spielt in Berlin. Welches Verhältnis haben Sie heute zu dieser Stadt?

Ein starker Anziehungspunkt. Ich habe hier ja meine Kindheit verbracht, in der Künstlerkolonie am Breitenbachplatz. Ich war ein zehn-, elfjähriger Junge, der viele kannte aus der Nachbarschaft, Erich Weinert etwa oder Ernst Busch: Dann habe ich Berlin 1945 erlebt, den Neuaufbau – das sind Erinnerungen, die einen sehr stark prägen. Ich fahre häufig nach Berlin, so häufig es geht, aber dann sehne ich mich auch nach der Eifel zurück.

Das Gespräch führte Felix Müller.

Wolfgang Leonhard: Meine Geschichte der DDR. Rowohlt, Berlin. 267 S., 19,90 Euro.

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