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Plädoyer für ein Zentrum der verfolgten Künste

© Von Jakob Hessing, Jerusalem

 

„Braucht Deutschland ein Zentrum für verfolgte Schriftsteller, Künstler und Musiker?“ Diese Fragestellung meines Beitrags hat zunächst einen ganz praktischen Aspekt, und er sei hier als erstes benannt. Ein solches Zentrum ist bereits im Entstehen – genauer: es wird schon seit einiger Zeit der Versuch gemacht, dieses im Entstehen begriffene Zentrum institutionell zu verankern, ihm eine öffentlich-rechtliche Grundlage zu geben -, und im Juli 2011 hat der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages (WD) dazu das relevante Material zusammengestellt. Er geht von dem sogenannten „Gedenkstättenkonzept des Bundes“ aus, und ich zitiere:

Aufgrund seiner Geschichte trägt Deutschland eine besondere Verantwortung für die Opfer von Krieg und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft. Die Bundesrepublik sieht es ebenso als wichtige Aufgabe an, an das Unrecht der SED-Diktatur zu erinnern und das Gedenken an die Opfer des Kommunismus in Deutschland wachzuhalten. […]

 

Entsprechend der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes ist die Förderung von Gedenkstätten in erster Linie Aufgabe der Länder und Kommunen. Seit 1999 fördert aber auch die Bundesregierung Gedenkstätten und Projekte von besonderer nationaler Bedeutung. Grundlage dafür ist das Gedenkstättenkonzept […](1)

 

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Hier ist eine aufschlussreiche Entwicklung zu beobachten. Das Trauma der NS-Zeit brachte es mit sich, dass Bonn seine Kulturpolitik dezentralisierte, um jeder Gefahr einer ‚Gleichschaltung’ vorzubeugen; zehn Jahre nach der Wiedervereinigung aber, im Rahmen des Gedenkstättenkonzeptes, eignete Berlin sich vorsichtig wieder das Hoheitsrecht eines kollektiven Gedächtnisses an: Wo es um die Verbrechen der deutschen Diktaturen geht – um politische Strukturen also, die auf der Gleichschaltung beruhten –, übernimmt nun, gleichsam spiegelbildlich, auch der Bund eine zentrale Rolle, erhebt bestimmte ‚Gedenkstätten und Projekte’ in den Stand ‚besonderer nationaler Bedeutung’.

Eine Gedenkstätte für verfolgte Künstler, so teilt der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages mit, gehört freilich nicht zu ihnen. „Es gibt kein zentrales Mahnmal bzw. keinen Gedenkort von nationaler Bedeutung für verfolgte Künstler der NS-Bildschirmfoto_2012-02-24_um_23.15.32

oder der DDR-Zeit“, so lesen wir; es gibt nur Beispiele für Denkmäler oder Erinnerungsorte aus dem Bereich der verfolgten Künste [wie] das Mahnmal für die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz, die ‚Künstlerkolonie Berlin’ in Wilmersdorf [..] oder Künstlerhäuser wie die Villa Merländer in Krefeld [..] Es gibt an vielen Orten in Deutschland Erinnerungsorte, Gedenktafeln oder ‚Stolpersteine’, die an das Schicksal verfolgter Künstler erinnern, die aber keine überregionale Bekanntheit und Bedeutung erlangt haben.(2)

 

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Nur eine einzige Ausnahme verzeichnet das Merkblatt des WD. „Speziell dem Thema ‚verfolgte Künste’“, so heißt es, „widmet sich allein ein Museum und eine entsprechende Initiative in Solingen, die von der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft getragen wird.“(3) Dies ist das eingangs genannte Zentrum, das seit einiger Zeit im Entstehen ist, und in der Fortsetzung beschreibt das Merkblatt die Schwierigkeiten, mit denen es zu kämpfen hat:

Im Jahr 2004 hat der Landschaftsverband Rheinland zwei Millionen Euro in die Bürgerstiftung eingebracht. Er hat außerdem im Jahr 2009 beschlossen, die Betriebskosten mit jährlich bis zu 290.000 Euro zu bezuschussen. Ende 2010 stimmten alle Beteiligten zu, dass das Zentrum in Form einer gemeinnützigen GmbH gegründet werden solle. Dennoch konnte die offizielle Gründung des Zentrums noch nicht erfolgen, weil die Stadt Solingen aufgrund ihrer Haushaltssituation nicht in der Lage ist, den von ihr zugesagten Teil der Finanzierung zu sichern […] Wenn die Stadt keine finanzielle Sicherheit bieten kann, ist die Existenz des Zentrums trotz der Zusage des LVR gefährdet.(4)

 

Es ist eine alte Geschichte: Das Geld ist knapp, und auf der praktischen Ebene wäre die Frage – „Braucht Deutschland ein Zentrum für verfolgte Schriftsteller, Künstler und Musiker?“ – etwa so zu formulieren: Ist die Entstehung eines solchen Zentrums wichtig genug, um sie aus dem Aufgabenbereich der Kommunen und Länder herauszuheben und in ein von der Bundesregierung gefördertes Projekt von nationaler Bedeutung zu verwandeln?

Die Frage nach der Notwendigkeit dieses Zentrums hat aber nicht nur eine praktische, sondern auch eine grundsätzliche Dimension, und bevor ich mich ihr zuwende, sei hier etwas klargestellt. Die Initiative für die Zentrumsgründung wird weitgehend von der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft in Wuppertal getragen; und wenn ich nun hinzufüge, dass mein erstes wissenschaftliches Buch im Jahr 1985 eine Biographie Else Lasker-Schülers war, und meine etwas später erschienene Dissertation eine Rezeptionsgeschichte Else Lasker-Schülers nach dem Zweiten Weltkrieg, dann wird es nicht wundern, dass ich ein Mitglied dieser Gesellschaft bin. Hier aber nehme ich nicht in dieser Eigenschaft Stellung, nicht als Mitglied der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, nicht – oder genauer: nicht nur – als Parteigänger einer öffentlichen Initiative; sondern zuerst und zuletzt als ein Mensch, dem die Geschichte und die Kultur des deutschen Judentums am Herzen liegt, und der daher dankbar dafür ist, zu einer Tagung eingeladen zu sein, die sich diesem Thema widmet. So – im Rahmen meiner Überlegungen zur Kultur im Allgemeinen, und zur jüdischen und deutsch-jüdischen Kultur im Besonderen – wende ich mich dem grundsätzlichen Aspekt unserer Leitfrage zu.

 

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Als ich Anfang der 80er Jahre den Wegen nachging, über die die unter Hitler vertriebene Dichterin Else Lasker-Schüler in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft wieder einen Ort fand, wurde mir bewusst, wie leicht die sogenannte ‚öffentliche Meinung’ zu manipulieren ist. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte man sie für verrückt erklärt, weil sie dem wilhelminischen Bürgertum nicht geheuer war;

unter Hitler verbot man ihre Bücher, weil sie eine Jüdin war; und nach 1945 wurde sie als die ‚größte Dichterin’ gehandelt, die ‚Deutschland je hatte’,(5) weil man im Adenauerstaat zusehen musste, die Flecken der Vergangenheit zu übertünchen. Gemeinsam ist diesen drei Varianten, dass sie mit der Dichterin und ihrem Werk nichts zu tun haben, sondern nur die Projektionen einer jeweils herrschenden Macht sind: die Macht des Bürgertums, des Faschismus oder des Kulturbetriebs, von der die Kunst und ihre Künstler aufgerieben werden.

 

Nehmt die Kunst in Schutz vor jeglicher Macht

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Natürlich soll hier die Verlogenheit des Bürgertums und des Kulturbetriebs keineswegs mit der Tödlichkeit des Faschismus gleichgesetzt werden; wohl aber gilt es, die Kunst vor jeder Macht in Schutz zu nehmen, die sich an ihr vergreift. Immer ist in ihr die Möglichkeit angelegt, der Macht entgegenzutreten, und immer ist die Kunst deshalb in Gefahr, von der Macht verfolgt und schließlich zerstört zu werden.

Lassen Sie mich noch einmal an den Anfang zurückgehen – an den Punkt, an dem in der für unsere Kultur entscheidenden Tradition der Zusammenstoß zwischen der Macht und der Kunst zum ersten Mal, und sogleich in aller Radikalität, formuliert wurde.

Und Gott redete alle diese Worte: Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! (Ex 20,1-5) 

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Es ist das erste der Zehn Gebote, das ich Ihnen hier vorlese, das biblische Bilderverbot, und von besonderer Bedeutung sind für unseren Zusammenhang seine letzten Worte: „Bete sie nicht an“ – die verbotenen Bilder – „und diene ihnen nicht!“ Wir kennen natürlich den Kontext und wissen, dass Gott hier gegen die Götzen spricht, gegen die ‚falschen’ Götter der anderen Völker; und wir wissen auch, mit welch vollendeter Dramaturgie das Sinai-Ereignis sich unserem kulturellen Gedächtnis eingeprägt hat:

während Moses die Bundestafeln erhält, tanzen am Fuße des Berges die Kinder Israel schon um das goldene Kalb. Sehen wir aber ab von dieser Inszenierung, die der heilige Text den Zeilen gegeben hat, dann schält sich in ihnen die Grundform einer Konfrontation heraus: So, wenn es hart auf hart kommt, begegnet die Macht der Kunst, denn in ihren misstrauischen Augen steht die Kunst immer im Verdacht, die Konterbande einer Gegen-Macht in ihrem Gepäck zu führen, die vernichtet werden muss.

Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich plädiere nicht für die anderen Götter, die seit biblischen Zeiten als die ‚falschen’ gelten, ich stelle nur einen Vorgang dar; ich beschreibe, wie die Macht der Kunst entgegentritt. Je größer diese Macht ist, desto gnadenloser geht sie vor – auch, und gerade, in den beiden Testamenten der Bibel. Sie brauchen sich nicht bei Sigmund Freud Auskunft zu holen oder die Thesen Jan Assmanns zu studieren, Sie brauchen nur im Buch Exodus nachzulesen, wie es den Tänzern um das goldene Kalb ergangen ist, um zu verstehen, was ich meine.

Zwei der drei monotheistischen Religionen, das Judentum und der Islam, haben sich, zumindest was das Gottesbild betrifft, strikt an das Verbot gehalten. Das Christentum aber ist einen anderen Weg gegangen und wurde damit zu der Ausnahme, die die Regel bestätigt. Es fiel den frühen Christen nicht leicht, sich von dem Bilderverbot zu befreien, und es hat zweihundert Jahre gedauert, ehe die ersten Darstellungen des Heilands entstanden. Hier werfen wir einen kurzen Blick auf die Anfänge dieser Kunst und verfolgen zwei Motive in den ersten Heilands-Bildern.

Zunächst begegnet uns das Motiv des Guten Hirten. Es findet sich in den römischen Katakomben, also in den unterirdischen Grabkammern, in denen diese Bilder – Ausdruck einer damals noch verfolgten Kunst – vor der Macht verborgen bleiben mussten. Das Antlitz des Erlösers ist unsichtbar, schwarz wie ein Schattenriss steht seine Gestalt auf der Felswand, auf seinen Schultern trägt er das Lamm: Hüter seiner schwachen Gemeinde, die in diesen frühen Jahrhunderten sehr schutzbedürftig war.

Daneben aber meldet sich schon der andere Jesus an. Ein zweites Motiv in den Katakomben ist die Erweckung des Lazarus: Aus einer gegiebelten Aedicula – einem römisch stilisierten Grab, das es im Johannesevangelium gar nicht geben konnte – kommt der auferstandene Lazarus hervor, und vor ihm, wiederum groß und schwarz und auch hier noch ohne Antlitz, steht der Heiland. Der Jerusalemer Kunsthistoriker Moshe Barasch, dem ich hier folge, weist auf den rechten Arm hin, den Jesus in die Höhe hält, und er macht darauf aufmerksam, dass dies die imperiale Gebärde der römischen Kaiser war.(6) Die Figur des Heilands changiert bereits, sie zeigt schon die Macht, die sich in ihr verkörpert, und im 4. Jahrhundert ist es dann so weit: das Mosaik in Santa Constanza in Rom, kurz nach der Konstantinischen Wende entstanden, stellt die traditio legis dar – Jesus Christus, den rechten Arm erhoben, steht im Mittelpunkt der Welt und gibt ihr sein Gesetz.(7)

Ein Geheimnis klärt sich auf. Weit über ein Jahrtausend konnte die christliche Kunst fortan Europas Kultur bestimmen, ohne der Verfolgung ausgesetzt zu sein, denn es war ihr, wie es sich für das Christentum gehört, ein Wunder gelungen. Sie trat der Macht nicht entgegen – sie repräsentierte die Macht; und sie tat es, indem sie die Spuren dieses Vorgangs schrittweise löschte: In der Menschwerdung Jesu fing sie das große Dilemma der Gottesdarstellung auf, den Anthropomorphismus; und in den beiden Varianten des Heilands – in der Unschuld des Christkindes und den Schmerzen des Gekreuzigten – tarnte sie ihren eigentlichen Anspruch.

 

Nicht von Gottes Gnade geschützt

Das Christentum ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Wie aber steht es um die Kunst, die nicht von Gottes Gnaden ist? Was geschieht, wenn sie mit der Macht in Konflikt gerät, und weshalb sollten wir alle besorgt sein, dass sie in diesem Konflikt nicht untergeht? Ich wähle als Beispiel den ersten aus einer langen Reihe verfolgter Künstler, die aus dem deutschen Judentum hervorgegangen sind: Heinrich Heine.

Bildschirmfoto_2012-02-24_um_23.17.02Als er in den frühen 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zu schreiben begann, hatte die Reaktion über Napoleon gesiegt, mit der Heiligen Allianz hatte das Christentum wieder Einzug gehalten in die Politik, und dem jungen Juden fiel es schwer, einen Ort zu finden. In seiner Tragödie Almansor stellte er den Religionskonflikt am Zusammenstoß von Christen und Muslimen im mittelalterlichen Spanien dar, und bald darauf, schon direkter, versuchte er den Rabbi von Bacherach zu schreiben, einen Roman über die Ritualmordlüge, die die Christen im Mittelalter, und nicht nur im Mittelalter, über die Juden verbreiteten. Das Buch hat er nie abgeschlossen; im Sommer 1825 – den Gesetzen der Heiligen Allianz gehorchend – ließ er sich taufen, ohne es zunächst bekannt zu geben; und 1831 ging er nach Paris, wo er die zweite Hälfte seines Lebens zubrachte und 1856 starb.

Im Kampf mit der Macht mußte auch der Künstler Heinrich Heine weichen, und hier wollen wir eine Spur verfolgen, die das in seinem Werk hinterlassen hat. Im Umkreis des Rabbi von Bacherach schrieb Heine ein Gedicht, das er wie seine Tragödie „Almansor“ nannte, ein Titel, der schon andeutet, dass er hier noch einmal in das mittelalterliche Spanien zurückkehrt. Das längere Gedicht besteht aus drei Teilen und beschreibt zunächst den Dom zu Corduva:

 

In dem Dome zu Corduva

Stehen Säulen, dreizehnhundert,

Dreizehnhundert Riesensäulen

Tragen die gewaltge Kuppel.

[…]

Mohrenkönge bauten weiland

Dieses Haus zu Allahs Ruhme,

Doch hat vieles sich verwandelt

In der Zeiten dunkelm Strudel.

 

Auf dem Turme, wo der Türmer

Zum Gebete aufgerufen,

Tönet jetzt der Christenglocken

Melancholisches Gesumme.(8)

 

Die Moschee ist zur Kirche geworden, und der junge Maure Almansor, mit leichter Selbstironie, leitet daraus die Berechtigung seiner eigenen Konversion ab:

 

In dem Dome zu Corduva

Steht Almansor ben Abdullah,

All die Säulen still betrachtend,

Und die stillen Worte murmelnd:

 

„O, ihr Säulen, stark und riesig,

Einst geschmückt zu Allahs Ruhme,

Jetzo müßt ihr dienend huldgen

Dem verhaßten Christentume!

 

Ihr bequemt euch in die Zeiten,

Und ihr tragt die Last geduldig; –

Ei, da muß ja wohl der Schwächre

Noch viel leichter sich beruhgen.“

 

Und sein Haupt, mit heiterm Antlitz,

Beugt Almansor ben Abdullah

Über den gezierten Taufstein,

In dem Dome zu Corduva.(9)

 

Während Almansor den Akt der Taufe noch einmal symbolisch wiederholt, wird er zum lächelnden Narziß. Das ist auch die Rolle, die er im zweiten Teil des Gedichtes spielt. Im Schloß zu Alkolea nimmt er an einem Ball teil und schmeichelt dort allen Damen, im dritten Teil schließlich bleiben Almansor und die Tochter des Hauses allein im Schloß:

 

Donna Clara und Almansor

Sind allein im Saal geblieben;

Einsam streut die letzte Lampe

Über beide ihren Schimmer.(10)

 

Doch dann, ganz plötzlich, verändert sich die Szene:

 

Auf dem Sessel sitzt die Dame,

Auf dem Schemel sitzt der Ritter,

Und sein Haupt, das schlummermüde,

Ruht auf den geliebten Knieen.

 

Rosenöl, aus goldnem Fläschchen,

Gießt die Dame, sorgsam sinnend,

Auf Almansors braune Locken –

Und er seufzt aus Herzenstiefe.

 

Süßen Kuß, mit sanftem Munde,

Drückt die Dame, sorgsam sinnend,

Auf Almansors braune Locken –

Und es wölkt sich seine Stirne.

 

Tränenflut, aus lichten Augen,

Weint die Dame, sorgsam sinnend,

Auf Almansors braune Locken –

Und es zuckt um seine Lippen.(11)

 

Die Lippen des jungen Mannes zucken, weil er nun zu träumen beginnt. Die letzten Strophen des Gedichtes leuchten sein Inneres aus:

 

Bildschirmfoto_2012-02-24_um_23.17.23Und er träumt: er stehe wieder,

Tief das Haupt gebeugt und triefend,

In dem Dome zu Corduva,

Und er hört viel dunkle Stimmen.

 

All die hohen Riesensäulen

Hört er murmeln unmutgrimmig,

Länger wollen sies nicht tragen,

Und sie wanken und sie zittern; –

 

Und sie brechen wild zusammen,

Es erbleichen Volk und Priester,

Krachend stürzt herab die Kuppel,

Und die Christengötter wimmern.(12)

 

Eben noch scheint ein in der Dichtung Heinrich Heines seltener Augenblick des Friedens eingetreten zu sein: Der Ritter und seine Dame sind alleine im Schloß, und Donna Clara, als wolle sie ihn salben, gießt Öl auf Almansors Haupt. Doch das ständig aufgeschobene Glück will sich auch jetzt nicht einstellen – Donna Clara bricht in Tränen aus, während sie sich über die braunen Locken ihres Geliebten beugt und sie „sorgsam sinnend“ betrachtet. Dreimal wiederholt das Gedicht diese Worte, und ihre Bedeutung enthüllt sich erst im Traum des schlafenden Almansor.

Er befindet sich wieder im Dom zu Corduva, doch das gebeugte Haupt lächelt diesmal nicht über dem Taufstein, sondern es trieft. Das scheint zunächst die Folge der Taufe zu sein, aber dann, unter dem Murmeln der Säulen, verwandelt sich der Kopf, wird zum schweißnassen Haupt des Simson, der das Haus der falschen Götter zusammenstürzen läßt. Moschee und Kirche sind zum Tempel der Philister geworden, Donna Clara zur fremden Frau, zur Delila, die das Haar des Geliebten bedroht, und der Jude, seinem Gotte treu geblieben, tritt unter der Maske des Mauren hervor – im Traum nimmt er Rache an seinen Peinigern.

Wer dies alles aber am tiefsten durchschaut, ist die Frau. ‚Tränenflut aus lichten Augen’ weint Donna Clara, und zu Recht: auch Simson, der den Tempel der Philister zerstört, dient noch jener gnadenlosen Macht, die einst, am Fuße des Sinai, die Tänzer um das goldene Kalb erschlagen ließ.

Der Zusammenstoß zwischen der Macht und der Kunst nimmt kein gutes Ende. „Es ist“ – so dichtete Heine in einem anderen Zusammenhang – „eine alte Geschichte, / Doch bleibt sie ewig neu; / Und wem sie just passieret, / Dem bricht das Herz entzwei.“13 Ob wir sie werden ändern können, muss dahingestellt bleiben, aber wir müssen uns bemühen, sie zu lernen, um sie zu durchschauen.

 

Beizeiten sich wehren

So ist auch das Projekt konzipiert, das in Solingen seine ersten Gehversuche macht: nicht als ein Archiv für längst vergangene Ereignisse, sondern als ein lebendiges, in jedem Sinne des Wortes gegenwärtiges Lern-Zentrum. „Das Zentrum für verfolgte Künste“ – so heißt es in einer Broschüre der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft zu dem Projekt – „thematisiert staatlich verfolgte Künstler und ihre Werke. Es ist kein herkömmliches Museum, keine Gedenkstätte, sondern eine interdisziplinäre nationale Einrichtung mit internationalem Hintergrund für den Zeitraum zwischen 1918 und 1989 mit Schwerpunkt ‚Drittes Reich’, die pädagogisch gegen Vergessen und Verdrängung arbeitet.“ Und im Blick soll immer auch die aktuelle Gegenwart stehen, „unter besonderer Berücksichtigung des Schicksals von Immigranten, mit Hinweisen auf Unterdrückung, Verfolgung und Vertreibung von Intellektuellen in anderen Ländern und deren Situation als ‚Asylbewerber’ in Deutschland. Für Schülergruppen, Studenten und engagierte Bürger böten sich hier vielfältige Möglichkeiten einer aktiven Beteiligung.“

Es ist offensichtlich, dass das Konzept sowohl organisatorisch als auch pädagogisch noch ausgearbeitet werden muss; und bedenkt man die Geschichte dieses Landes, so ist es ebenso offensichtlich, dass einer der Schwerpunkte immer das „Dritte Reich“ zu bleiben hat. Das bedarf keines Kommentars – und warum also, habe nicht auch ich die NS-Zeit in den Mittelpunkt meiner Überlegungen zur verfolgten Kunst gestellt, wie man es wohl erwarten könnte? Warum habe ich statt dessen so weit ausgeholt und die Fragen aus einer eher unerwarteten Perspektive aufgegriffen?

Ich habe es getan, weil ich nicht das Offensichtliche bieten wollte und damit auch vieles, das sich ihm nach den Regeln des Erinnerungsdiskurses gleichsam zwangsläufig angeschlossen hätte; weil ich keine ‚Vergangenheit’ vorführen wollte, keine schon überwundene Diktatur, die sich aus sicherem Abstand betrachten und in dieser ‚Betrachtung’ zugleich ad acta legen ließe; weil der Zusammenstoß zwischen der Macht und der Kunst eine uralte Geschichte ist, die sich überall und jederzeit wiederholen kann; und weil ich deshalb den Machthabern – allen Machthabern – nicht den Deckmantel des Faschismus geben wollte, unter dem sie sich verstecken könnten, nicht das Alibi des ausgewiesenen Bösen, mit dem sich jedes Regime als unverdächtig auszugeben vermag. Es gibt kein unverdächtiges Regime, und besonders in unseren Demokratien, in denen das oft nur schwer zu erkennen ist, sollte es uns immer bewusst bleiben.

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Ich komme zum Schluss: Ja, selbstverständlich braucht Deutschland ein Zentrum für verfolgte Künste. Und nicht nur Deutschland, sondern alle Länder dieser Erde brauchen solche Zentren. In ihnen soll die Macht sich selbst zurücknehmen vor der Kunst; in ihnen soll sie offenlegen, wie sie ihr zu verschiedenen Zeiten den Freiraum beschnitten hat; in ihnen soll sie der Kunst die Exterritorialität eines Gedächtnisses zurückgeben, das sich vor keiner Macht zu verantworten braucht. Und in diese Zentren soll sie auch ihre Schulkinder schicken, damit sie beizeiten lernen, wogegen sie sich zu wehren haben.

Prof. Dr. Jakob Hessing arbeitet als Schriftsteller und leitet die germanistische Abteilung der Hebräischen Universität Jerusalem (http://pluto.huji.ac.il/~jhessing/). Diesen hier veröffentlichten Vortrag hielt er am 27.10.2011, im Rahmen der Tagung “Kultur und Identität. Deutsch-jüdisches Kulturerbe im In- und Ausland“, veranstaltet vom Moses Mendelssohn-Zentrum Potsdam im Centrum Judaicum,

Berlin, vom 25. – 27. 10. 2011

 

© Else Lasker-Schüler-Gesellschaft


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