Berlins kleines Hollywood in Berliner Morgenpost

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Die Künstlerkolonie Wilmersdorf war und ist Heimat von Schauspielern und Schriftstellern. Manfred Maurenbrecher hat die Geschichte seines Zuhauses aufgeschrieben

Foto: Reto Klar

Als Manfred Maurenbrecher vor 22 Jahre in die Wohnung seiner Kindheit zurückzog, hatte das weniger sentimentale als praktische Gründe. Die ausgebaute Dachetage in Kreuzberg war durch einen Staffelmietvertrag so kostspielig geworden, dass er in Wilmersdorf fast die Hälfte sparen konnte. Außerdem war er gewarnt worden, dass vor der Schule, in die sein Sohn Max demnächst gehen sollte, Drogendealer stehen würden. „Meine Frau und ich sagten uns, das ist wie so ein Zeichen. Wir nehmen die Wohnung meiner Eltern, und unser Sohn wächst in einer relativ langweiligen, aber bürgerlichen Gegend auf.“

Ganz so langweilig kann es nun doch nicht sein. Sonst würde jetzt nicht dieses Buch vor uns liegen, in dem der Sänger und Kabarettist Maurenbrecher genau von diesem Ort erzählt. Denn die Viereinhalbzimmerwohnung, in der er aufgewachsen ist und später selbst als Vater wieder einzog, gehört zur Künstlerkolonie Wilmersdorf.

Die drei Häuserblocks in der Nähe des Breitenbachplatzes waren zwischen 1927 und 1930 gebaut worden. Initiator war die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger und der Schutzverband deutscher Schriftsteller, die passenden und vor allem preiswerten Wohnraum für ihr manchmal nicht liquides Klientel schaffen wollten. Dennoch lebten viele der Künstler über ihre Verhältnisse. Der Anteil der Mietschuldner, schreibt Maurenbrecher, soll von Anfang an überdurchschnittlich hoch gewesen sein. Manche Berliner spotteten deshalb über die „Hungerburg“.

Schauspieler deklamieren leise ihre Texte

Wenn man mit Manfred Maurenbrecher nun fast ein Jahrhundert später durch sein Viertel spaziert, wirkt die Gegend gepflegt. In den Innenhöfen finden sich Grünflächen. Auch der Spielplatz auf dem Ludwig-Barnay-Platz (Namensgeber war ein bekannter Heldendarsteller im 19. Jahrhundert und Gründer der Bühnen-Genossenschaft) schaut einladend aus. Und wo sind die Künstler? Maurenbrecher versucht, Spekulation um Aufsehenerregendes an dem Ort zu entschärfen. Im Sommer höre man manchmal aus den geöffneten Fenstern Sängerinnen ihre Koloraturen üben. Auch Schauspieler würde man ab und zu sehen – ihren Text unterwegs leise deklamierend. Aber das war’s denn schon. Paparazzi werden hier kaum Promiskandale ablichten können. Zu ruhig.

Dass der Name Maurenbrecher an einem Klingelschild in der Künstlerkolonie stehen durfte, verdankt die Familie dem beruflichen Abstieg des Großvaters. Der 1872 in Königsberg geborene Otto Maurenbrecher war Schauspieler und Theaterintendant gewesen. In der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und auch während des Nationalsozialismus hatte er an verschiedenen Bühnen in Deutschland gewirkt.

Mit seinem Schicksal hat auch ein erst unscheinbarer kleiner Mann zu tun, der in den zwanziger Jahren bei ihm als Dramaturg arbeitete. Einige Jahre später gehörte dieser Joseph Goebbels zu den krawalligen Wortführern der Nationalsozialisten und bestimmte das Kulturleben in Deutschland. Seinen Chef aus Wuppertaler Zeiten machte der Reichspropagandaleiter in Berlin zum Verwaltungsdirektor des Theater des Volkes. Maurenbrecher wurde auch Mitglied der NSDAP. In seinem Buch beschreibt der Enkel den Großvater so: „Wahrscheinlich war er ein typischer Mitläufer, wenngleich tief konservativ, antilinks, vielleicht auch antisemitisch in dem Maß, in dem künstlerisches deutsches Kleinbürgertum dazu neigte.“

Eine Notrente in Höhe von 80 Mark

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sich der mittlerweile 73-Jährige bei einer Entnazifizierungsstelle einfinden. Ein britischer Offizier befragte ihn – auf Englisch. Anstatt sich über seine Stellung während der NS-Zeit zu äußern, polterte Maurenbrecher gegen den Militär: „Sind wir hier in Deutschland oder wo?“ Er beharrte darauf, Fragen nur zu beantworten, wenn sie auf Deutsch gestellt wurden. Wenn nicht bleibe er eben ein Nazi. Die Quittung für sein Verhalten war, dass er die restlichen 15 Jahre seines Lebens mit einer Notrente in Höhe von etwa 80 Mark monatlich auskommen musste.

Fortan sorgte der Sohn, der Bibliothekar war, für die Eltern. Man zog zusammen. 1950 wuchs der Haushalt auf fünf Personen, als Manfred zur Welt kam. Eine größere Wohnung wurde dringend benötigt. Nun zeigt aber der Großvater, dass er doch noch ein gewisses Renommee besaß. Beim Deutschen Bühnenverein war ihm die Chefsekretärin aus alten Tagen gewogen und vermittelte der Familie 1956 die 115 Quadratmeter große Wohnung in der Künstlerkolonie, in der Laubenheimer Straße 1.

Eine Ironie der Geschichte ist sicher, dass der Großvater nun seine letzten Lebensjahre in der „roten Tintenburg“ verbringen musste. Schon vor der Machtübernahme Hitlers hatten die Schriftsteller und Schauspieler eigene Schutztrupps gebildet, um sich gegen Überfälle der SA zur Wehr zu setzen. Viele der frühen Bewohner gingen nach dem Zweiten Weltkrieg in die DDR. Wie der Arbeiterkampflieder-Dichter Ernst Busch, der „Sinn und Form“-Chefredakteur Peter Huchel, der Schriftsteller Erich Weinert oder der Verfasser der DDR-Nationalhymne Johannes R. Becher von 1949, dessen Text allerdings nach 1972 nicht mehr gesungen wurde.

Immer wieder Schauplatz von Razzien

In der Nazizeit waren die Besitzverhältnisse auf eine Joseph-Goebbels-Stiftung übergegangen. Trotzdem wurde das Viertel immer wieder Schauplatz von Razzien und Verhaftungen. Den linken Publizisten Alexander Graf Stenbock-Fermor traf es als einen der ersten Bewohner. 1933 tauchte er in der Künstlerkolonie unter, flog aber bei einer Hausdurchsuchung auf. Erst nach mehreren Monaten kam er durch Fürsprache von Freunden wieder frei. Im Geheimen opponierte er weiter und gründete die Widerstandsgruppe „Revolutionäre Arbeiter und Soldaten“. Andere Bewohner wie die Christin Helene Jacobs versuchten, Juden zu helfen, versteckten sie auf dem Dachboden oder in ihren Wohnungen. Auf dem Ludwig-Barnay-Platz erinnert heute ein Gedenkstein an die politisch Verfolgten.

Von dieser Vergangenheit erzählt Manfred Maurenbrecher, aber der Charme des Buches liegt in den Schilderungen seines eigenen Erlebens der Künstlerkolonie. Dass das erst in den fünfziger und sechzigern Jahren einsetzt, tut dem keinen Abbruch. Noch immer hatte die Künstlerkolonie prominente Bewohner wie beispielsweise Fritz Genschow. Der Kinderfilmemacher hatte sich in der Nazizeit noch in den Dienst des Regimes gestellt, wurde aber nach dem Krieg als „Onkel Tobias“ im Radio „eine stadtbekannte Figur“. Der trockene Kommentar von Maurenbrechers Großvater: „Da muss die Entnazifizierung wohl geklappt haben.“

Die Schriftstellerin Dinah Nelken kehrte nach dem Krieg zurück

Schriftsteller wie Martin Kessel oder die aus der Emigration zurückgekehrte Dinah Nelken lebten im Alter zurückgezogen in der Künstlerkolonie. Der Schauspieler Dietrich Lehmann vom „Grips“-Theater wohnt nur eine Tür weiter von Maurenbrecher. „Besser, Sie sprechen ihn nicht an, er lebt ganz in seinen Rollen“, hat die Freundin des Schauspieler einst Maurenbrechers Mutter zugeraunt. Jahrelang habe man sich dann auch nur zugenickt, mittlerweile sei aber ein freundlicher, hilfsbereiter, fast herzlicher Kontakt entstanden, schreibt Maurenbrecher.

Auffällig ist die gehäufte Ansammlung von Tafeln an den Häusern der Künstlerkolonie, die von den einst prominenten Bewohnern erzählen. Es könnten allerdings noch viel mehr sein. Lil Dagover, Sebastian Haffner, Klaus Kinski, Douglas Sirk … Manfred Maurenbrecher ist es gelungen, die Geister der Vergangenheit ein bisschen zu wecken.

Manfred Maurenbrecher: „Künstlerkolonie Wilmersdorf“, be.bra Verlag, 144 Seiten, 10 Euro.

Jan Draeger, 11.12.2016