Die Künstlerkolonie gibt es schon seit 1927.
Der gleichnamige Verein will das Viertel wieder aus seinem Dornröschenschlaf wecken.
Berlin. Alwin Schütze versteckt seine Liebe für Kunst nicht. Seine Wilmersdorfer Wohnung gleicht einem begehbaren Bilderbuch. Man tastet sich auf Trittsteinen über einen Teich, der auf den Fußboden gemalt ist und hält bei diesem Balance-Akt ab und zu inne, um ein Bild, eine Skulptur oder eine Vitrine mit bunten Sammelobjekten zu bestaunen.
Nur in einem der Zimmer geht der Besucher sicher über Teppichboden. Hier lagert ein zwar weniger sichtbarer, aber kulturhistorisch vielleicht noch wichtigerer Schatz: das Archiv der Wilmersdorfer Künstlerkolonie.
Der ehemalige Kunsthandwerker und Restaurator ist seit 2014 Vorsitzender des Vereins, der die Geschichte des Quartiers aufarbeitet und dokumentiert, aber auch das soziale Geschehen der Kolonie wieder beleben möchte. „Wir wollen diese einzigartige Siedlung bewahren und wieder stärker in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stellen“, sagt Schütze.
Hauszinssteuer ermöglichte den Bau neuer Wohnungen
Die Künstlerkolonie ist nur eines der zahlreichen Wohnungsbauprojekte, mit denen die Weimarer Republik die grassierende Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg bekämpfte. In einer Situation, die der aktuellen Situation in Berlin nicht unähnlich ist, wurde 1924 die sogenannte Hauszinssteuer eingeführt.
Diese mussten vor allem Liegenschaftseigentümer zahlen, die sich während der Inflation schnell von ihren Schulden hatten befreien können. „Ein Vorbild, an dem sich die Politik auch heute orientieren könnte“, sind sich Alwin Schütze und sein Stellvertreter Rüdiger Ohst einig.
Siedlung lag am Rand der Stadt
Mit solchen Mitteln kauften die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA) und der Schutzverband deutscher Schriftsteller 1926 das Areal zwischen Laubenheimer Straße und Breitenbachplatz. „Man muss sich allerdings vorstellen, dass das Grundstück damals noch nicht mitten in der Stadt, sondern im Süden von Wilmersdorf am Stadtrand lag“, sagt Schütze.
Gebaut wurden dann zwischen 1927 und 1931 nach den Plänen von Ernst und Günther Paulus 600 Wohnungen in drei Wohnblöcken mit schlichten Fassaden und großzügigen Innenhöfen. Rund 1000 Künstler und deren Angehörige lebten nach dem Erstbezug in der Kolonie. „Nicht jeder Schauspieler war ja gleich ein gut bezahlter Star. Viele waren eher Lebenskünstler“, sagt Ohst.
Einziehen durften zudem auch Mitglieder, die nicht direkt im Rampenlicht standen“, erzählt Ohst. Dazu gehörten beispielsweise auch Kulissenmaler oder Souffleusen.
Viele Persönlichkeiten des künstlerischen und intellektuellen Lebens
In den 20er- und 30er-Jahren wohnten in der Kolonie viele Persönlichkeiten des künstlerischen und intellektuellen Lebens: der Philosoph Ernst Bloch, der Sänger Ernst Busch, die Schauspieler Lil Dagover und Gustav Knuth oder der Schriftsteller Arthur Koestler. Dass die Siedlung vom Volksmund „Rote Hungerburg“ getauft wurde, kam nicht von ungefähr. „In den meisten Behausungen lag nur eine Matratze am Boden; keiner verhungerte, man half sich gegenseitig und wanderte von Wohnung zu Wohnung.
Man roch, wo einer Arbeit gehabt hatte und etwas Speck und Käse zu finden war“, schrieb der Schriftsteller Gustav Regler in seiner 1958 erschienenen Autobiografie. „Die Fluktuation war hoch. Viele zogen wieder aus, wenn sie berühmt wurden und sich eine größere Wohnung leisten konnten oder andernorts ein festes Engagement bekamen“, sagt Schütze.
Kein Geld für Neubauten in der Nachkriegszeit
Die Künstlerkolonie „überlebte“ den Zweiten Weltkrieg. Zwar hatte sich die Goebbels-Stiftung die Vermögenswerte 1942 einverleibt, es gelang den ursprünglichen Eigentümern aber schon in den frühen 50er-Jahren, die Immobilien wieder zurückzubekommen. Doch einer Aufforderung der alliierten Besatzungsbehörden, auf dem freien Grundstück zum Breitenbachplatz hin, Neubauten zu errichten, konnten sie aus finanziellen Gründen nicht mehr nachkommen.
Die GDBA und der Schutzverband Deutscher Schriftsteller übergaben die Künstlerkolonie an die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Gehag mit der Auflage, dass beim Freiwerden einer Wohnungen immer erst bei der GDBA nachgefragt werden müsste, ob sich ein Interessent aus dem Kreis der Mitglieder für die Wohnung findet.
Die Künstlerkolonie hat inzwischen mehrfach den Eigentümer gewechselt und gehört heute der Vonovia, dem größten deutschen Wohnungsunternehmen. Ein Schnäppchen sind die Wohnungen nicht mehr, zumindest nicht für diejenigen, die neu dort einziehen. „Wir mussten in den vergangenen Jahren erheblich in die bauliche Substanz des Quartiers investieren und notwendige Sanierungen durchführen“, sagt Vonovia-Sprecher Matthias Wulff.
Vonovia fühlt sich weiter an das Belegungsrecht gebunden
Ans Belegungsrecht der GDBA fühlt sich der Wohnungs-Riese aber weiter gebunden: „Wir arbeiten da gut mit den Verantwortlichen vor Ort zusammen“, sagt Wulff. Auch sechs neue Künstlerateliers seien in den Dachgeschossen geschaffen worden. „Wir achten darauf, dass die Idee der Künstlersiedlung in Form von vielfältigen kulturellen Veranstaltungen fortlebt. Das unterstützen wir mit räumlichen Angeboten und auch finanziell“, versichert auch Vonovia-Vorstandsmitglied Klaus Freiberg. „Man hat uns auch Hilfe bei der Suche nach Räumen zugesagt, in denen wir uns treffen und das Archiv unterbringen können“, freut sich Alwin Schütze.
Der Verein will die Künstlerkolonie wieder zu dem machen, was sie einmal war, ein lebendiger Impulsgeber für die Kultur in Berlin.