Ein neuer origineller Typ moderner Großstadtbebauung tritt in der Gartenterrassenstadt Wilmersdorf in die Erscheinung. Um ein einheitliches, großzügiges Straßenbild zu schaffen, erwirkte die Berliner Bodengesellschaft mit ihrer Tochtergesellschaft Berlin – Südwest gemeinsam mit dem Wilmersdorfer Magistrat beim zuständigen Ministerium die Aufhebung einer alten störenden Bauvorschrift, betreffend Anordnung des Bauwichs zwischen den einzelnen Häusern zugunsten einer Reihenhausbebauung. Keine Reihenhausbebauung im Sinne der stereotypen, einförmigen, unschön überladenen Großstadtstraßen – nein, eine umfassende Reaktion gegen die neue deutsche Renaissance. Das Ministerium des Innern gab ohne weiteres seine Einwilligung zu der glücklichen Idee, welche schon im Modell Eindruck machte. Der von der Bauordnung zwischen den Häusern bzw. Hausgruppen geforderte, mindestens 10 m breite Bauwich, dieser Zugschacht, der greuliche, das Gesamtbild zerreißende Silhouetten gegen den Himmel stellt, wird einfach ausgebaut zugunsten der verbleibenden Hoffläche. Man gibt noch mehrere Quadratmeter als vordere Hoffläche zur Strasse zu, um letztere, die von Haus aus 24 m breit, zu einer eigenartig schönen, 44 m breiten , licht- und luftdurchfluteten zu machen.
Der Schöpfer dieses neuen Typs, Architekt Paul Jatzow, äußert sich in der „Architekturwelt“ zu der überraschenden Gegenüberstellung seiner Perspektiven für Straßenanlagen mit Bauwich und ohne solchen in folgender charakteristischer Weise:
Den Berliner Vororten ist durch den Bauwich eine besondere Physiognomie verliehen, man möchte sagen die Physiognomie eines alten Weibes, dem die Hälfte ihrer Zähne fehlt.
Der Bauwich, der guten Absicht entsprungen, den Hintergebäuden und dem ganzen Baublock Licht und Luft zuzuführen, ist eine Mifigehurt gewesen. Es erübrigt sich wohl, hierfür noch besondere Gründe anzuführen; alle Städtebauer sind sich darüber einig, daß der Bauwich bekämpft werden muß bis aufs Messer. Es ist nun gegen diesen Bauwich sowohl von Terraininteressenten Sturm gelaufen worden, weil der Bauwich für die Häuser das Unpraktischeste ist, was man sich nur denken kann, als auch von Aesthetikern, weil der Bauwich unkünstlerisch wirkt.
Die beifolgenden beiden Bilder zeigen eine interessante Gegenüberstellung, erstens den Bauwich, wie er leibt und lebt mit allen seinen Häßlichkeiten in ästhetischer Beziehung; man sieht besonders, wie der Bauwich Einblick in häßliche Höfe ergibt und das ganze Straßenbild zerreißt. Das andere Bild zeigt folgende Lösung: Für den Baublock ist dieselbe Ausnutzung vorgesehen; es ist der Bauwich auch bestehen gela.ssen worden, aber derartig, daß man ihn zu einer wirksamen und vernünftigen größeren Fläche zusammengelegt hat, die auch eine intensive Durchlüftung des Blocks ergibt; es ist gewissermaßen eine weitere luftige Gartenstraße in die Häusermassen hineingelegt, während trotzdem vermieden wird, das die Häuser kalt und zugig werden. Jeder, der diese Gegenüberstellung sieht, wird sich ohne weiteres sagen, das die letztere Lösung die allein natürliche und richtige sein muß.
Aber nicht nur im einzelnen, auch im ganzen offenbart sich die Tätigkeit der ebengenannten Gesellschaft. Durch gemeinsames Zusammengehen mit der Stadt Wilmersdorf entstand mitten im Häusermeer der Großstadt eine Gartenstadt – nicht im Sinne idyllischer Landhaussiedlungen, denn dazu ist der Boden zu teuer, sondern eine Gartenstadt, wo der Großstadtmensch idyllisch und doch in unmittelbarer Fühlung mit der Großstadt wohnen kann. So stellt sich die Gartenterrassenstadt Wilmersdorf als eine ideale Zusammenfassung von Großstadt und Dorfcharakter dar. Diese Wirkung wurde erreicht durch Vorgärten, 13 m breite sattgrüne Rasenflächen, die in sanften Steigungen zu den Hauswandungen hinauf wogen und hier ihre Fortsetzung finden in Spalieren, welche die Fronten der Häuser bis hinauf zum ersten Geschoß mit blütenreichen Kletterrosen umranken. Um die Ausschmückung im kunstgärtuerischen Sinne zur Geltung kommen zu lassen, wurde eine Gesellschaft Gartenvereinigung Berlin – Südwesten , deren Gesellschafter die Eigentümer der 500 projektierten Häuser sind, gebildet, die für die gleichmäßige Unterhaltung der Gartenterrassen und der gärtnerischen Fassadenverzierung Sorge trägt. Der Anfang der Gartenterrassenstadt ist mit der Landauer Straße (siehe drittes Bild) gemacht, in ähnlicher Weise wird dort das ganze sog. Rheinische Viertel ausgebaut.
© Dieser Artikel erschien am 13. Januar 1912 in der Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen und Elsass Lothringen
Spannender Artikel! Danke!
Danke das freut uns