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Damals wars…Professor Kurt Raeck

Erinnern Sie sich an unseren langjährigen Bewohner der Berliner Künstlerkolonie

Professor Kurt Raeck 

Intendant Renaissance-Theater Berlinbekommt die Ernst-Reuter-Medaille in Silber verliehen (Photo by Binder/ullstein bild via Getty Images)

 

Was bin ich eigentlich, wenn ich 50 Jahre hier in Berlin am Theater in führender Position gewesen bin? Theaterdirektor, Titel Intendant habe ich mal bekommen, Orden und alle möglichen Dinge. Aber damit weiß ich immer noch nicht “was bin ich eigentlich”? Ich bin Berliner. Sagen wir’s kurz. (Kurt Raeck)

 

Von 1946 lag die Leitung des 1927/1928 errichteten Renaissance-Theaters dreiunddreißig Jahre in den Händen von Professor Kurt Raeck. In dieser Zeit war der vielfältig aktive Theatermann die dominante Erscheinung der Privatbühnen (neben Hans Wölffer) und darüberhinaus eine Schlüsselfigur im Theaterleben der Halbstadt.

 

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Anläßlich seines Todes 1981 schrieb Friedrich Luft:

Er war … mit einem selten gewordenen Gemeinsinn für das Berliner Gemeinwesen tätig. Das wird nun sehr fehlen. Er war ein Berliner von der eher sympathisch stillen Art. Er war der allererste, der, studierend, über ein Thema der praktischen Theaterarbeit an irgendeiner deutschen Universität promovierte. Der erste deutsche Theater-Doktor. Das ist er bis zu seinem Ende geblieben. … Heinrich George, als dem das Schillertheater 1936 überantwortet wurde, zog ihn als seinen Geschäftsleiter hinzu. Raeck trat, bewußt und kalkulierend, ins zweite Glied. Er wartete auf das Ende der Nazis und seine neue Chance. Als er sie bekam, ergriff er sie sofort. … Er hat mit Karl Heinz Martin das neue Hebbeltheater zwei fahre aufgebaut. Als die Engländer endlich das schöne Renaissance-Theater für eine Berliner Nutzung wieder hergaben, griff er zu. … Er hat Willi Schmidt, hat Ernst Schröder, hat Hans Lietzau und vor allem immer wieder den schwierigen Rudolf Noelte dort inszenieren lassen – oft mit Spielerfolgen, die die der Staatstheater übertrafen. … Er hatte den direkten Draht zu den großen Protagonisten. Käthe Dorsch hat bei ihm mehrfach gespielt. Walther Franck gehörte zu seinem Ensemble immer wieder. Mit O.E. Hasse und Emst Schröder war er eng befreundet. Er hat Curt Goetz an sein Haus gezogen, solange der noch lebte und spielte und schrieb. Er hat Elisabeth Bergner eigentlich erst in ihre zweite, große deutsche Karriere gebracht, und hat der Grete Mosheim mehrfach die Berliner Stätte bereitet. … Er hat seinem Renaissance-Theater einen praktikablen, einen eigenständigen und unverwechselbaren Ort in der Theaterlandschaft Berlins gegeben.

Die Raeck-Ära war die Zeit der großen Schauspieler. Kaum eine(r), der vor dem Kriege Rang und Namen hatte und nicht im Renaissance-Theater gespielt hätte: Lucie Mannheim, Hubert von Meyerinck, Tilla Durieux, Rudolf Forster, Paul Hörbiger, Grethe Weiser und und und.

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Erfolg und Renommée des Hauses beruhten zum großen Teil auf den Entfaltungsmöglichkeiten, die Raeck diesen Persönlichkeiten bot. Für die Bedingungen eines Privattheaters hielt er ein erstaunliches Autoren-Niveau: Auch Albee, Beckett, Bond, O’Neill und Sartre standen auf dem Ensuite-Spielplan.

Aus der Reihe der Erfolge, die Kurt Raeck immer dann besonders glücklich machten, wenn er mit Gehaltvollem auch Geld verdiente, sei eine Sternstunde des Theaters aus den 50er Jahren herausgegriffen: “Geliebter Lügner“, die europäische Erstaufführung des Briefwechsels zwischen G. B. Shaw und der Schauspielerin Stella Campbell-Patrick unter der Regie des Autors Jerome Kilty mit Elisabeth Bergner und O. E. Hasse. Einhellig schwärmten die Kritiker von dem Wunder Bergner, von der plötzlich der alte Zauber ausging, der in dem glorreichen Theaterjahrzehnt zwischen 1920 und 1930 ihre Größe ausgemacht hatte. O. E. Hasse steigere sich an seiner herrlichen Partnerin zu einer darstellerischen Intelligenz, die ihresgleichen suche; die Bergner sei erst jetzt wirklich aus der Emigration zurückgekehrt.

 

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Intendant Renaissance-Theater Berlin (1946-1979)Porträt- 1956 (Photo by ullstein bild/ullstein bild via Getty Images)

Ich habe versucht, immer das zu machen, was mir auch Freude macht. Ich habe manchmal etwas machen müssen – aus wirtschaftlichen Überlegungen -, was mir keine Freude macht. (Kurt Raeck)

www.renaissance-theater.de


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Der Südwestkorso

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Der Südwestkorso ist eine rund 1650 Meter lange Straße in den Berliner Ortsteilen Friedenau und Wilmersdorf. Der Name bezieht sich auf die Richtung der Straße, in der sie zwischen der Bundesallee hinter der Ringbahn- und Autobahnüberführung stadtauswärts bis zum Breitenbachplatz verläuft.

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1935:Strassenbahnlinie 71,Suedwestkorso

 

Korso bezeichnete früher vor dem 18. Jahrhundert ein Wettrennen reiterloser Pferde, wie sie vor allem in Italien auf Straßen und Plätzen stattfanden (siehe Palio).

Später wurde der Begriff auf das langsame Durchfahren der Hauptstraßen einer Stadt in geschmückten Kutschen und Equipagen, hauptsächlich beim Karneval angewandt. Dieser Brauch, den auch Goethe in seiner Italienreise ausführlich beschreibt, gab in fast allen größeren Städten Italiens der Hauptstraße den gleichen Namen. Am bekanntesten ist der Korso in Rom. Bei Goethe heißt es dazu:
 
… fahren die Kutschen nach und nach in den Korso hinein, in derselben Ordnung, wie wir sie oben beschrieben haben, als von der sonn- und festtägigen Spazierfahrt die Rede war, nur mit dem Unterschied, daß gegenwärtig die Fuhrwerke, die vom venezianischen Palast an der linken Seite herunterfahren, da, wo die Straße des Korso aufhört, wenden und sogleich an der andern Seite wieder herauffahren …
 
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BERLIN 09.11.2006 Wohngebiets- Siedlung an der Rheinstraße – Südwestkorso – Wiesbadener Straße – Handjerystraße nahe dem Friedrich-Wilhelm-Platz in Berlin. // Settlement at the Rheinstrasse – Suedwestkorso – Wiesbadener street – Handjerystrasse near the Friedrich Wilhelm Platz in Berlin. Foto: BSF Swissphoto GmbH

 

Den Namen gibt es seit dem 27. März 1909. Der Südwestkorso ist rund 1650 Meter lang und verbindet die Ortsteile Friedenau und Wilmersdorf. So kommt es, dass die Häuser Nr. 1-17 und Nr. 60-77 zu Friedenau (PLZ 12161) und die Häuser Nr. 18-59 zu Wilmersdorf (PLZ 14197) gehören. Die Straße wurde 1906 bis 1908 von der Berlinischen Boden-Gesellschaft angelegt. Sie beginnt an der Ecke Bundesallee und Varziner Straße und endet vor dem Breitenbachplatz. An der Kreuzung Stubenrauch- und Görresstraße (vorher Wilhelmstraße) in Höhe der Offenbacher- und Mainauer Straße befand sich einst der Hamburger Platz. Er wurde für die Erweiterung des Friedhofs Stubenrauchstraße aufgegeben.
 
Dort stand von 1909 bis 1931 der von Paul Aichele entworfene „Sintflutbrunnen“. Auf Wunsch von Kaiser Wilhelm II. wurde ein Mittelstreifen als Reitweg angelegt, auf dem 1911 die Trasse der Straßenbahnlinien „O“ nach Kupfergraben und „69“ nach Friedrichsfelde über Bayerischer Platz, Nollendorfplatz, Spittelmarkt und Alexanderplatz gelegt wurde. Als am Ende der zwanziger Jahre deutlich wurde, dass der Autoverkehr einen Umbau des Südwestkorsos erforderlich machen, wurde der „Sintflutbrunnen“ abgebaut und 1931 auf dem Maybachplatz (heute Perelsplatz) installiert. Aus dem Mittelstreifen wurden später Parkplätze.
 
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Südwestkorso mit Sintflutbrunnen, 1910. Archiv Barasch

 

Während der Enthüllung des „Sintlutbrunnens” auf dem Hamburger Platz am 4. Juli 1909 konnte Bürgermeister Bernhard Schnackenburg (1867-1924) im Beisein des Schöpfers sowie von Gemeindebaurat Hans Altmann (1871–1965) jedenfalls mit Stolz verkünden, dass dieses Kunstwerk von dem (allerdings im badischen Markdorf geborenen) Friedenauer Künstler Paul Aichele (1859-1924) geschaffen wurde.

 

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Berlinische Boden-GesellschaftGeorg Haberland (1861-1933)

 

Der Brunnen war eine „Gabe” des Bauunternehmers Georg Haberland (1861-1933). Seine „Berlinische Boden-Gesellschaft“ hatte 1904 große Teile des noch unbebauten Friedenauer Areals erworben und den Bau vierstöckiger Mietshäuser durchgesetzt. Das kleidete er in schöne Worte:

„Im Herbst des Jahres 1906 ist die Anlage des Südwestkorsos von der Gemeinde Friedenau beschlossen worden, ein neuer Straßenzug, der den Südwesten Berlins durchschneidet und von der aufblühenden Kolonie Dahlem eine direkte Verkehrsstraße durch die Kaiserallee mit der Stadt bildet. Wie zweckmäßig diese Maßnahme war, ersehen Sie aus dem Umstande, dass kaum zwei Jahre nach seiner Anlage ein großer Teil des Korsos bereits der Bebauung erschlossen worden ist. Diese Allee bedarf einer Unterbrechung, eines Ruhepunktes, auf dem das Auge mit Wohlgefallen ruht und kein anderer Ort scheint geeigneter für einen solchen, als dieser Platz, auf welchem sich der Brunnen erhebt, den ich heute Ihnen, meine Herren übergeben will.”

Der Bürgermeister allerdings „möchte nicht hoffen, dass die Kraft Friedenaus in Denkmälern bestehen soll, sondern dass Ruhe und Frieden es ziere. Für ihn hat die Terrain-Gesellschaft eine große Bedeutung, da sich fast der ganze Rest unbebauten Geländes in ihrer Hand befindet. Da sei es uns eine Genugtuung zu wissen, dass die Gesellschaft nicht nur die Terrains aufschließe und sie nach Belieben bebauen lasse, sondern, dass sie auch dahin wirkt, Häuser zu errichten, die unserem Ort zur Zierde gereichen”.

 

Bekannt war, dass der Bauunternehmer Georg Haberland und seine „Berlinische Boden-Gesellschaft“ am 22. September 1904 von der Gemeinde Friedenau das Sportparkgelände zwischen Handjerystraße und Kaiserallee (Bundesallee) erworben hatten, und dort mit dem „Wagnerviertel” ein Quartier mit dem „fortgeschrittensten Stand des großbürgerlichen Mietwohnungsbaus” entstehen ließen. Nicht bekannt war, dass die „Berlinische Boden-Gesellschaft“ im Februar 1890 von den aus Wittstock an der Dosse stammenden Salomon (Vater) und Georg (Sohn) Haberland zusammen mit dem Hamburger Kaufmann Arthur Booth und unter Beteiligung des Berliner Bankhauses Delbrück, Leo & Co. gegründet worden war und eigentlich bis heute „besteht“. Wie das?

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Im Herbst 1975 entstand die „Bilfinger + Berger Bauaktiengesellschaft“ durch Zusammenschluss der „Grün & Bilfinger AG“ in Mannheim mit der Wiesbadener „Julius Berger-Bauboag AG“, die 1969 aus der Fusion der Julius Berger AG und der BAUBOAG in Düsseldorf hervorgegangen, die wiederrum bis 1954 als „Berlinische Boden-Gesellschaft“ firmierte. Die Geschichte der heutigen „Bilfinger Berger AG“ erstreckt sich daher, vermittelt durch die Vorläuferunternehmen, über einen Zeitraum von mehr als 137 Jahren.

 

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Erst war der Plan da… Die Ausdehnung Berlins nach Westen wurde von Terraingesellschaften vorangetrieben. Sie sorgten wie hier am Reichskanzleiplatz 1907 zunächst für die Infrastruktur, Straßennetze und U-Bahn-Anschluss, bevor der Baugrund verkauft werden konnte.FOTO: WALDEMAR FRANZ TITZENTHALER

 

Unter dem Titel „Drei Wurzeln – Ein Unternehmen“ haben die Historiker Bernhard Stier und Martin Krauß Material über die Geschichte dieser Unternehmen zusammengetragen. Da diese Dokumentation Zusammenhänge mit der aktuellen Berliner Situation nahelegt, wenn nicht sogar vergleichbar ist, zitieren wir mit freundlicher Genehmigung der „Bilfinger Berger AG“ die wesentlichen gedanklichen Ansätze von Georg Haberland und der „Berlinischen Boden-Gesellschaft“:

Die 1890 in der Reichshauptstadt gegründete Berlinische Boden-Gesellschaft begann nicht als Bauunternehmen, sondern als so genannte Terraingesellschaft. Ihr Geschäftszweck war die Erschließung und Entwicklung neuer Baugebiete, Siedlungen und Stadtteile. Die Unternehmensgründer reagierten damit auf die massive Bevölkerungszunahme Berlins. Zwischen 1870 und 1910 stieg die Einwohnerzahl der Reichshauptstadt von 967.000 auf 2.070.000. Im Jahre 1908 lebten im Großraum Berlin, also unter Einbeziehung der damals noch selbstständigen Vororte, 3.260.000 Menschen. Diese Bevölkerungszunahme ließ Berlin zu einer der dynamischsten Großstädte Europas werden.

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Grabenkämpfe. Bauland gab es reichlich, doch es zu erwerben, setzte gute politische Kontakte bei Gemeinde- und Stadträten voraus. Georg Haberland verfügte über sie, so entstand 1908 das Bayerische Viertel vor den Toren Berlins. Im Hintergrund zu sehen, ist der Bayerische Platz. Haberland sollte selbst ein Haus in der Gegend beziehen. FOTO: MUSEEN TEMPELHOF-SCHÖNEBERG

 

Das Wachstum stellte immense Anforderungen an die Verwaltung. Innerhalb von vier Jahrzehnten musste neuer Wohnraum für mehr als eine Million Menschen geschaffen und in großen Dimensionen die Infrastruktur für Transport, Ver- und Entsorgung, für Bildung und Gesundheit erstellt werden. Die städtische Verwaltung sah sich dabei mit bislang unbekannten Herausforderungen konfrontiert. Daraus entstand eine politische und volkswirtschaftliche Debatte über Probleme der Urbanisierung und Stadtentwicklung, über „Wohnungsfrage”, „Wohnungsreform” und Bodenordnung sowie über die Aufgaben von öffentlicher Hand und privater Initiative auf diesen Gebieten.

Der Tuchfabrikant Salomon Haberland (1836-1914), der 1866 von Wittstock an der Dosse nach Charlottenburg übergesiedelt war, und sein Sohn Georg Haberland (1861-1933) hatten einen guten Blick für die Entwicklung der Reichshauptstadt. Mit Gespür für den zunehmenden Wohnungsbedarf investierten sie erworbenes Vermögen in Grund und Boden. Etwa ab 1880 betätigten sie sich auf dem Gebiet der Parzellierung und des Weiterverkaufs von Grundstücken sowie der Kreditvergabe an Bauunternehmer. Im Februar 1890 wurde zusammen mit dem Hamburger Kaufmann Arthur Booth und unter Beteiligung des Berliner Bankhauses Delbrück, Leo & Co. die Berlinische Boden-Gesellschaft (BBG) gegründet.

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© ruedi-net

 

Der Grundgedanke war die Erschließung unbebauter Ländereien und der Verkauf baureifer Parzellen an die Baugewerbetreibenden. Diese errichteten auf den von ihnen erworbenen Bauparzellen Häuser, um sie alsdann an Leute zu verkaufen, die ihre Ersparnisse in Hausbesitz anlegen wollten. Die BBG richtete ein technisches Büro ein, das die Grundrisse für die einzelnen Häuser aufstellte. An Hand dieser Grundrisse wurden Rentabilitätsberechnungen angefertigt, nach denen  die Preise der Bauparzellen derart festgesetzt wurden, dass für den Unternehmer ein nutzbringendes Geschäft herauskam.

Eines der bedeutendsten Projekte Haberlands und zugleich ein Musterbeispiel für die Arbeitsweise der Berlinischen Boden-Gesellschaft war die Entwicklung des „Bayerischen Viertels”. Die Tätigkeit der Gesellschaft bestand darin, in Abstimmung mit der Gemeinde einen umfassenden Bebauungsplan aufzustellen, das Gelände in insgesamt 500 einzelne Bauparzellen aufzuteilen, Straßen auszubauen und für die Herstellung der Infrastruktur zu sorgen. Die mustergültige Planung berücksichtigte alle Grundsätze des zeitgenössischen modernen Städtebaus, vor allem die Unterscheidung zwischen Verkehrsstraßen und reinen Wohnstraßen, die eine geringere Breite aufwiesen und in denen Ladengeschäfte nur in Eckhäusern erlaubt waren. Das Konzept verzichtete auf tief gestaffelte Quer- und Rückgebäude und vermied damit jene düsteren Hinterhöfe, die für die Berliner Mietskasernen typisch waren. Die aneinanderstoßenden Hofflächen wurden stattdessen zusammengefasst, nur mit Zäunen abgetrennt und teilweise bepflanzt. Vorgärten in den Wohnstraßen, gärtnerisch ausgestaltete Inseln im Straßenverlauf und vor allem die Anlage von Plätzen belebten das Erscheinungsbild. Mit dem Viertel entstand ein ästhetisch anspruchsvoller neuer Stadtteil, der sich von vielen anderen, nur unter Rentabilitätsgesichtspunkten erbauten positiv abhob und als Wohnquartier bald überaus begehrt war.

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Kiosk und Bedürfnisanstalt am Südwestkorso, 1973. Quelle LBB

 

Bei der durchdachten und aufwändigen Planung wurden die neuartigen Grundsätze des „romantischen Städtebaus” mustergültig umgesetzt, wie sie der Wiener Baumeister und Städteplaner Camillo Sitte wenige Jahre zuvor entwickelt hatte. Gegen die „Motivarmut” und Nüchternheit moderner Stadtplanung sowie ihre einseitige Ausrichtung auf Verkehrszwecke forderte Sitte die künstlerische Durchbildung der Entwürfe. Vor allem die Plätze als Zentren des öffentlichen Lebens entdeckte er neu. Dementsprechend kam ihnen und der umliegenden Bebauung eine wichtige ästhetische Funktion zu. Im Bayerischen Viertel erregte besonders der im Juni 1900 eingeweihte, von dem Kölner Gartenarchitekten Fritz Encke entworfene Viktoria-Luise-Platz großes Aufsehen bei den Städtebauern wie den Berliner Bürgern. Diese zentrale Gartenanlage in Form eines langgezogenen Sechsecks ist bis heute der kommunikative und ästhetische Mittelpunkt des ganzen Stadtteils. Das neue Viertel galt bald als das nobelste Quartier im Berliner Westen.

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Zahlreiche weitere Vorhaben folgten diesem Konzept. Ab 1904 wurde auf dem Sportparkgelände in Friedenau das „Wagnerviertel” erschlossen. Daran schloss sich in westlicher Richtung das „Südwestgelände” an, dessen Entwicklung Haberland zusammen mit der 1895 gegründeten Terraingesellschaft Berlin-Südwesten betrieb. Im Jahr 1905 beteiligte sich die Berlinische Boden-Gesellschaft an diesem Unternehmen. Mit dem nach Dahlem führenden Südwestkorso als Hauptachse entstand zwischen dem Heidelberger Platz im Nordwesten und dem Laubenheimer Platz im Süden das „Rheingauviertel“. Es zeichnete sich in seinem Zentrum um den Rüdesheimer Platz durch einheitliche Geschoss-, Trauf- und Firsthöhen sowie Dachneigungen und eine planmäßig abgestimmte Fassadengestaltung aus. Das verlieh dem Stadtteil eine große architektonische Geschlossenheit. Gartenterrassen und die künstlerische Ausgestaltung von Plätzen und Brunnen erhöhten den Wohn- und Erlebniswert.

 

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Wohnbblock in der Rubensstraße um 1930. Quelle Bilfinger Berger AG

 

Die Gesamtplanung eines neuen Wohnquartiers mit allem Zubehör und die technische wie finanzielle Abwicklung des Projekts bildete das unternehmerische Prinzip, mit dem die Berlinische Boden-Gesellschaft auf diese Nachfrage reagierte. Die privaten Terraingesellschaften übten damit Funktionen aus, die heute als öffentliche Aufgaben angesehen werden. In der Frühzeit der Urbanisierung war die kommunale Verwaltung dazu aber weder fachlich noch personell in der Lage, zudem entsprach ein solches Engagement nicht ihrem Selbstverständnis. Nach dem vorherrschenden liberalen Paradigma beschränkte sich die Tätigkeit der Gemeinden bei der Erschließung von Baugebieten auf die Erstellung des Bebauungsplans, also die Vorgabe der Fluchtlinien und der zu errichtenden Straßenzüge.

Eine sachliche Auseinandersetzung mit den Terraingesellschaften hätte alle diese Aspekte berücksichtigen und dabei anerkennen müssen, dass das Terraingeschäft insgesamt ein äußerst produktives System darstellte. In Berlin wurden jedoch Georg Haberland und die Berlinische Boden-Gesellschaft beinahe zwangsläufig zur Hauptzielscheibe der Kritik. Sie entzündete sich am Bayerischen Viertel und wurde in der Schöneberger Kommunalpolitik ausgetragen. Insbesondere der seit 1911 amtierende Oberbürgermeister Alexander Dominicus griff Haberland und seine Gesellschaft scharf an.

© friedenau-aktuell

 


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Erinnerung an Lil Dagover

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Erinnern Sie sich an unsere

ehemalige Bewohnerin der

Berliner Künstlerkolonie  

in der

Laubenheimer Strasse

Lil Dagover ?

 

 

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Lil Dagover 1919 auf einer Fotografie von Alexander Binder.
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Lil Dagover 1927, Fotografie von Alexander Binder

 

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Grabstätte von Lil Dagover
 
Lil Dagover, geb. Maria Antonia Sieglinde Martha Lilitt Seubert, (* 30. September 1887 in Madioen, Oost-Java, Niederländisch-Indien, heute Madiun, Ost-Java, Indonesien; † 23. Januar 1980 in Geiselgasteig, Bayern) war eine deutsche Bühnen- und Film-Schauspielerin. Sie zählte zu den führenden deutschen Stummfilmschauspielerinnen und wirkte zwischen 1916 und 1979 in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen mit.
 

Lil Dagover war Tochter eines deutschen Forstbeamten in niederländischen Diensten und wurde in der Stadt Madiun im heutigen Indonesien geboren, das zu dieser Zeit noch eine niederländische Kolonie war. Sie wurde in Großbritannien, Frankreich und der Schweiz erzogen. Erst als Zehnjährige kam sie nach Deutschland, nachdem ihre Mutter verstorben war. Sie besuchte die Schule in Tübingen und wuchs bei Verwandten auf. Später ging sie nach Weimar. Ihr Geburtsname war Martha Seubert. Andere Vornamen wie Marie, Antonia, Siegelinde und Lilitt entsprangen ihrer Fantasie. 1913 heiratete sie den Schauspieler Fritz Daghofer und wandelte dessen Nachnamen zu ihrem Künstlernamen Dagover ab. 1914 wurde ihre Tochter Eva geboren. Durch ihren Ehemann kam sie in Kontakt mit dem Film. 1913 hatte sie ihren ersten Filmauftritt. Sieben Jahre später ließ sie sich von Daghofer scheiden.

Unter ihrem Künstlernamen trat sie 1919 in zwei Filmen Fritz Langs auf. Von Robert Wiene wurde sie für die weibliche Hauptrolle in Das Cabinet des Dr. Caligari engagiert. Danach drehte sie mit Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau und anderen in künstlerisch anspruchsvollen Stummfilmen, die ihr Image als „vornehme Dame“ prägten. 1926 heiratete sie den Produzenten Georg Witt. Da Lil Dagover neben der Filmkarriere in Berlin auch zu einer angesehenen Theaterschauspielerin avancierte und somit Spracherfahrung besaß, bedeutete der Wechsel vom Stummfilm zum Tonfilm für den Star der 1920er Jahre keinen Karriereknick, wie für viele andere Stummfilmstars. Sie spielte an Max Reinhardts Deutschem Theater oder auch bei den Salzburger Festspielen.

Auch während der Zeit des Nationalsozialismus blieb Dagover ein gefeierter UFA-Star, der in den Jahren 1933 bis 1944 mit insgesamt 23 Rollen zu den bekanntesten und beliebtesten Leinwanddarstellern des deutschen Films dieser Zeit gehörte. Obwohl die Nationalsozialisten sie hofierten, tat sie sich politisch nicht hervor. 1937 wurde ihr der Titel Staatsschauspielerin verliehen, und 1944 erhielt sie für ihren Einsatz bei der Truppenbetreuung und ihre Auftritte in Fronttheatern das Kriegsverdienstkreuz. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war sie in zahlreichen Filmen zu sehen und wurde mit Preisen bedacht, so 1954 mit dem Bundesfilmpreis für die beste weibliche Nebenrolle in Königliche Hoheit. 1962 erhielt sie das Filmband in Gold für langjähriges und hervorragendes Wirken im deutschen Film. Ein großer Erfolg war für Dagover 1961 auch der Edgar-Wallace-Film Die seltsame Gräfin, in dem sie die Titelrolle spielte. Lil Dagover trat bis Ende der 1970er Jahre in Filmen auf.

Lil Dagover-Witt starb 1980 in ihrem Haus auf dem Bavaria-Filmgelände in Grünwald. Sie und ihr Gatte Georg ruhen nebeneinander auf dem Waldfriedhof Grünwald bei München.

 

  • 1913: Schlangentanz – Regie: Louis Held
  • 1916: Die Retterin – Regie: Christa Christensen
  • 1916: Das Rätsel der Stahlkammer – Regie: Max Mack
  • 1918: Das Lied der Mutter
  • 1919: Der Tänzer, zwei Teile
  • 1919: Die Spinnen, 1. Der goldene See – Regie: Fritz Lang
  • 1919: Harakiri – Regie: Fritz Lang
  • 1920: Das Cabinet des Dr. Caligari – Regie: Robert Wiene
  • 1920: Die Jagd nach dem Tode
  • 1920: Die Frau im Himmel
  • 1920: Der Richter von Zalamea – Regie: Ludwig Berger
  • 1921: Das Geheimnis von Bombay
  • 1921: Der müde Tod – Regie: Fritz Lang
  • 1922: Luise Millerin – Regie: Carl Froelich
  • 1922: Phantom – Regie: Friedrich Wilhelm Murnau
  • 1923: Seine Frau, die Unbekannte
  • 1923: Die Prinzessin Suwarin
  • 1924: Komödie des Herzens – Regie: Rochus Gliese
  • 1925: Zur Chronik von Grieshuus – Regie: Arthur von Gerlach
  • 1925: Tartüff – Regie: Friedrich Wilhelm Murnau
  • 1926: Die Brüder Schellenberg – Regie: Karl Grune
  • 1927: Die Lady ohne Schleier (Hans engelska fru)
  • 1928: Der Graf von Monte Christo – Regie: Henri Fescourt
  • 1928: Ungarische Rhapsodie
  • 1928: Der geheime Kurier
  • 1929: Der Günstling von Schönbrunn
  • 1929: Spielereien einer Kaiserin – Regie: Wladimir Strischewski
  • 1930: Der weiße Teufel – Regie: Alexander Wolkow
  • 1931: Der Kongreß tanzt – Regie: Erik Charell
  • 1931: Elisabeth von Österreich – Regie: Adolf Trotz
  • 1931: The Woman from Monte Carlo – Regie: Michael Curtiz
  • 1932: Die Tänzerin von Sanssouci – Regie: Friedrich Zelnik
  • 1933: Johannisnacht – Regie: Willy Reiber
  • 1934: Ich heirate meine Frau – Regie: Johannes Riemann
  • 1935: Der höhere Befehl
  • 1935: Der Vogelhändler – Regie: E. W. Emo
  • 1935: Lady Windermeres Fächer – Regie: Heinz Hilpert
  • 1936: Schlußakkord
  • 1936: Das Mädchen Irene – Regie: Reinhold Schünzel
  • 1936: Fridericus – Regie: Johannes Meyer
  • 1936: August der Starke – Regie: Paul Wegener
  • 1936: Das Schönheitsfleckchen
  • 1937: Die Kreutzersonate – Regie: Veit Harlan
  • 1938: Es leuchten die Sterne – Regie: Hans H. Zerlett
  • 1940: Friedrich Schiller – Der Triumph eines Genies – Regie: Herbert Maisch
  • 1940: Bismarck – Regie: Wolfgang Liebeneiner
  • 1942: Wien 1910 – Regie: E. W. Emo
  • 1948: Die Söhne des Herrn Gaspary – Regie: Rolf Meyer
  • 1949: Man spielt nicht mit der Liebe – Regie: Hans Deppe
  • 1950: Es kommt ein Tag
  • 1950: Vom Teufel gejagt
  • 1953: Königliche Hoheit – Regie: Harald Braun
  • 1953: Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein
  • 1954: Schloß Hubertus – Regie: Helmut Weiss
  • 1955: Der Fischer vom Heiligensee – Regie: Hans H. König
  • 1955: Rosen im Herbst – Regie: Rudolf Jugert
  • 1955: Die Barrings– Regie: Rolf Thiele
  • 1956: Kronprinz Rudolfs letzte Liebe – Regie: Rudolf Jugert
  • 1957: Unter Palmen am blauen Meer – Regie: Hans Deppe
  • 1959: Buddenbrooks – Regie: Alfred Weidenmann
  • 1961: Die seltsame Gräfin – Regie: Josef von Báky
  • 1969: Hotel Royal – Regie: Wolfgang Becker
  • 1971: Kolibri – Regie: Nathan Jariv
  • 1973: Der Fußgänger – Regie: Maximilian Schell
  • 1974: Karl May – Regie: Hans-Jürgen Syberberg
  • 1975: Tatort: Wodka Bitter-Lemon
  • 1975: Der Richter und sein Henker – Regie: Maximilian Schell
  • 1977: Die Standarte – Regie: Ottokar Runze
  • 1979: Geschichten aus dem Wienerwald – Regie: Maximilian Schell
  • 1937: Ernennung zur Staatsschauspielerin
  • 1954: Filmband in Silber (Beste weibliche Nebenrolle) für Königliche Hoheit
  • 1962: Filmband in Gold für langjähriges und hervorragendes Wirken im deutschen Film
  • 1964: Bambi für Verdienste um den deutschen Film
  • 1967: Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland

Der Lil-Dagover-Ring in Grünwald wurde nach ihr benannt, außerdem 1995 in Berlin-Hellersdorf die Lil-Dagover-Gasse.


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Erinnerung an Wolfgang Leonhard

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Erinnern Sie sich an Wolfgang Leonhard ?

Wolfgang Leonhard, langjähriger Bewohner der Berliner Künstlerkolonie, war ein deutscher Historiker. Er galt als einer der führenden Kenner der Sowjetunion, der DDR und des Kommunismus. Leonhard war Mitglied der Gruppe Ulbricht und wurde bekannt auch durch seinen Bestseller ‘Die Revolution entläßt ihre Kinder’.

Wir erinnern an Wolfgang Leonhard mit einem Interview welches 2007 in derBerliner Morgenpost erschien.

Lebenslänglich DDR

Wolfgang Leonhard ist letzter Überlebender der Gruppe Ulbricht, die nach 1945 den Sozialismus in Deutschland installierte.

Wolfgang Leonhard ist letzter Überlebender der Gruppe Ulbricht, die nach 1945 den Sozialismus in Deutschland installierte. Ein Gespräch über den SED-Staat, die Einheit und die Vorzüge einer großen Bibliothek

Berliner Illustrirte Zeitung: Herr Leonhard, Sie sind einer der führenden Kenner der ehemaligen Sowjetunion und des Kommunismus. Sie leben in dem kleinen Ort Manderscheid in der Eifel. Warum ausgerechnet dort?

Leonhard: Das ist Zufall. Ich habe einmal Freunde in der Eifel besucht. Ich kann hier in Ruhe meine Bücher schreiben und meine gewaltige Bibliothek genießen. Ich darf daran erinnern, dass Werner Höfer aus einem Eifelort kommt und Mario Adorf ebenfalls. Es gibt hier also durchaus interessante Persönlichkeiten.

Ihr neues Buch trägt den Titel “Meine Geschichte der DDR“. Was ist das Persönliche daran?

In den fünf Jahren von 1945 bis 1949 habe ich persönlich am Aufbau des Systems der Sowjetzone mitgewirkt. Dieser Zeitraum wird heute oft übersehen, weil nur noch wenige Zeitzeugen davon berichten können. Und auch nach meiner Flucht habe ich die DDR niemals von außen erlebt.

Wie meinen Sie das? Sie sind doch erst nach der Wende zurückgekehrt, 40 Jahre später.

Wo immer ich gewesen bin, war die DDR mein Hauptthema. Ich lebe seit 1950 in der Bundesrepublik – und doch habe ich über sie noch nie einen Artikel geschrieben, geschweige denn ein Buch. Anders die DDR. Meine Bibliothek hier in Manderscheid hat an die 6000 Bücher, davon kaum welche über den Westen oder die Bundesrepublik. Es gibt nur Bücher über die Sowjetunion, den internationalen Kommunismus – und vor allem: riesige Wände voller Bücher über die DDR.

Sonst nichts?

Einiges mehr. Ich habe zum Beispiel vom 1. Januar 1952 an alle Nummern der “Prawda”, bis 1991, immer eingebunden in Vierteljahresbände. Als diese Zeitung ihr Erscheinen einstellte, war das ein schmerzlicher Verlust für mich. Alle Nummern des “Neuen Deutschlands” habe ich auch – für den ständigen Vergleich Sowjetunion/DDR.

Fühlen Sie sich in der Eifel nicht manchmal ein bisschen im weltpolitischen Abseits?

Orte sind für mich nicht so wichtig. Ich bin kein Reporter, der auf Impressionen angewiesen ist. Ich habe nichts gegen Reporter, aber was sie schreiben, ist unvollständig. Reporter können nur erzählen, was sie sehen und hören. Im Hinblick auf die diktatorische Zeit muss man jedoch analysieren, und das kann man nur, wenn man Parteitagsresolutionen ganz genau liest, nach Hinweisen fahndet auf Schwierigkeiten und Widersprüche, die auch in offiziellen Berichten der Parteiführung mitunter zu erkennen sind.

Wie erlebten Sie Ihre Jahre in der Sowjetischen Besatzungszone? Wann war der Punkt erreicht, als Sie erkannten, dass Sie auswandern mussten?

Ich würde zwei Perioden unterscheiden: zunächst eine antifaschistisch-demokratische, die bis zum Frühjahr 1948 dauerte. Sie war im Wesentlichen mit den Namen Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl verknüpft.

Dann kam die Währungsreform in den Westzonen.

Für mich ein ziemlich unwichtiges Ereignis.

Warum? Sie führte immerhin zur Berlin-Blockade.

Ja, aber für mich war viel wichtiger, was am 16. April 1948 passierte. Es war die fünfstündige Rede Walter Ulbrichts an der SED-Parteihochschule. Mit ihr wurde der Weg in den Einparteienstaat geebnet. Das war auch der Moment, der mir die Augen geöffnet hat. In seiner Rede betonte Ulbricht, die SED sei nun die führende Kraft, und es sei ihre Aufgabe, mithilfe des Staatsapparates unsere eigenen Ziele durchsetzen. Mir wurde heiß und kalt bei diesem Vortrag. Mir war klar: Jetzt gibt es keinen antifaschistisch-demokratischen Block mehr. Jetzt beginnt die verschärfte Angleichung an das stalinistische System der Sowjetunion. Jetzt kam die zweite Periode: die bürokratische Diktatur. Ich erkannte: Hier ist nicht mein Platz.

Aber Sie hatten ja schon vorher genug Gelegenheit, Walter Ulbricht zu beobachten. Sie kannten diesen Mann und seinen Charakter. Wieso waren Sie überrascht?

Bei Ulbricht als Person war ich keineswegs überrascht. Aber bis 1948 waren Wilhelm Pieckund Otto Grotewohl entscheidend, und Ulbricht musste dieses Kräfteverhältnis berücksichtigen.

Sie haben es noch einige Wochen in Berlin ausgehalten.

Bis zum Sommer 1949. Da wurde mir endgültig klar: Wir werden zu einer Provinz der Sowjetunion unter Stalin. Damit gehörte ich der Opposition an. Im Sommer 1948 kam dann Titos offener Bruch mit dem stalinistischen System…

… Sie flohen nach Jugoslawien, waren bei Radio Belgrad Leiter der deutschsprachigen Sendungen und sind von da aus im November in die Bundesrepublik gekommen. Wie haben Sie diesen Staat erlebt?

Ich habe mich ein bisschen fremd gefühlt.

Inwiefern?

Die Mentalität war mir fremd. Ich habe mich in Jugoslawien viel mehr zu Hause gefühlt als in dieser Bundesrepublik. Mein Hauptthema blieb die DDR. Sehr schnell gelang es mir, bei der Zeitschrift “SBZ-Archiv” eingestellt zu werden. Das war die Zeitschrift über die DDR, in der ich mich mit diesem Staat befassen konnte. Ich bin aber auch immer wieder nach Jugoslawien gefahren, zu meinen Freunden. Dort habe ich auch den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 erlebt.

Welche Bedeutung hat der Aufstand für Sie im Rückblick?

Eine außerordentliche – wenn man endlich von dem engen Begriff DDR absieht. Mit dem 17. Juni 1953 begannen die Aufstände gegen die bürokratischen Diktaturen in Mittel- und Südosteuropa. Er war ein Fanal, das weitergetragen wurde mit dem 20. Parteitag der KPdSU 1956, mit dem polnischen Oktober, mit der gewaltigen ungarischen Revolution, dem Prager Frühling 1968, schließlich der polnischen Solidarnosc-Bewegung – das ist eine Kette. Diese Kette gab mir Hoffnung. Seit den 60er-Jahren war ich der festen Überzeugung, dass das weitergeht und das System zusammenbricht.

Eine wichtige Zäsur der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte ist der 13. August 1961. Wo waren Sie, als die Mauer gebaut wurde?

Ich war zu Gast bei Werner Höfer im “Internationalen Frühschoppen”. Ich und die anderen Diskussionsteilnehmer kamen also so um zehn, halb elf da an, und da lief gerade die Nachricht vom Mauerbau über den Ticker. Dann diskutierten wir live darüber, noch während es geschah. Ich weiß noch, wie ich sagte: Es kommt jetzt auf die nächsten Stunden an. Wenn in den nächsten Stunden der Bau nicht abgestoppt wird, wenn es nicht zu Gegenmaßnahmen kommt, dann wird die Mauer für Jahre existieren.

Wie erlebten Sie die Reaktion des Westens?

Die Idee lautete leider: Wir lassen sie gewähren, oder es kommt zum Krieg. Das war eine primitive Betrachtung, man sah immer nur Extreme. Es grassierte die Idee, man müsse den Realitäten ins Auge sehen.

“Wandel durch Annäherung”, von Egon Bahr geprägt bei seiner berühmten Tutzinger Rede 1963, wurde zum Slogan der Neuen Ostpolitik.

Dafür war ich auch. Aber dann hieß es: Wir können den Zustand nur verändern, wenn wir Konzessionen an das DDR-System machen. Das konnte ich verstehen, nur wollte ich die Reihenfolge etwas verändern. Eine Diktatur kann man nicht verändern, indem man sich annähert. Annäherung bei Wandel: Das wäre die richtige Losung gewesen.

Über Herbert Wehner schreiben Sie: “Innerhalb kürzester Zeit wurde aus einer Freundschaft die härteste Ablehnung”. Wie kam es dazu?

Ich habe mich natürlich mit Herbert Wehner am meisten verbunden gefühlt, als ich im November 1950 in die Bundesrepublik kam. Er hatte Sachkenntnis; ich fand es sehr gut, dass man in der SPD an wichtiger Stelle jemanden hatte, der sich genau mit der Sowjetunion Stalins auskannte. Doch dann musste ich entdecken, dass er das Ostbüro bekämpfte – die organisatorische Basis der geflüchteten Parteiführer und Mitglieder der SPD nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED. Mit dem Ostbüro war ich sehr verbunden, die schleusten kritische Materialien in die DDR ein. Leute wie Hermann Weberund ich schrieben für das Ostbüro, weckten Nachdenklichkeit und Kritik gegenüber dem System. Und das hat Herbert Wehner unterdrückt. Für mich eine sehr große Enttäuschung.

1987 waren Sie erstmals wieder in der Sowjetunion. Wie war das für Sie?

Ich war 21 Jahre lang Professor an der Yale-Universität in New Haven, von 1966 bis zum Juli 1987. Ich hatte über 30 Jahre auf Reformen in der Sowjetunion gewartet, unter Gorbatschow schienen sie mir nun erkennbar zu sein. Im Juli 1987 hatte ich die Gelegenheit, die Reformbewegung mitzuerleben. Ich begleitete den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und Außenminister Hans-Dietrich Genscher nach Moskau. Es war atemberaubend.

Haben Sie nicht bei Ihrem ersten Besuch Angst gehabt? In derselben Stadt war 50 Jahre zuvor Ihre Mutter entführt worden.

Es war sehr widerspruchsvoll. Zum einen war die Stimmung viel gelöster. Am Flughafen, als wir ankamen, gab es jedoch eine gespenstische Situation. “Willkommen, Herr Bundespräsident”, stand da auf Transparenten.

Und?

Das war ja sehr schön. Aber es war auf rotes Tuch mit weißer Schrift gemalt, wie zu sowjetischen Zeiten. Als ich das letzte Mal solche Transparente gesehen hatte, hatte “Tod den trotzkistischen Spionen” darauf gestanden.

Die Symbole waren noch die alten.

Man war hin- und hergerissen zwischen der Freude über die positiven Veränderungen und der Erkenntnis, dass die alten Kräfte doch noch sehr stark sind. Und in diesem Widerspruch habe ich die Jahre nach 1987 erlebt. Ich habe nicht gezweifelt an den Reformfähigkeiten und -wünschen der Führung, aber kannte doch sehr gut die bürokratischen Gegenkräfte.

Im Herbst 1989 betraten Sie dann den Boden der DDR. Wie war das?

Ich wurde jubelnd empfangen – als erster Dissident der DDR.

Sehen Sie sich in einer Linie mit Ernst Bloch und Robert Havemann?

Absolut. Ich sehe mich als Bindeglied zu den späteren Dissidenten. In erster Linie aber eng verbunden mit Ernst Bloch. Später ist er ja auch geflohen, 1961, und da haben wir uns im Westen und in Jugoslawien getroffen.

Mit welchen Gefühlen blicken Sie heute auf den Verlauf der deutschen Einheit zurück?

Es stimmt mich traurig, dass die Menschen, die so mutig waren, gegen die Diktatur aufzustehen und eine friedliche Revolution einzuleiten, mehr und mehr isoliert wurden. Von meinem Standpunkt aus war das eine überhastete Vereinigung.

Was trennt Ost und West heute?

Alle westlichen Vorurteile gegenüber der DDR-Bevölkerung sind heute stärker. Und umgekehrt gilt das auch, vielleicht noch mehr.

Vor ein paar Wochen wurde der Film “Das Leben der Anderen” mit einem Oscar ausgezeichnet. Haben Sie ihn gesehen?

Ja. Ich finde ihn ausgezeichnet, weil er all die Widersprüche des Systems und der Menschen in ihm zeigt. Wandlungen: Das ist das Entscheidende für Menschen, die in einer Diktatur leben, noch dazu in einer solchen.

Der Film spielt in Berlin. Welches Verhältnis haben Sie heute zu dieser Stadt?

Ein starker Anziehungspunkt. Ich habe hier ja meine Kindheit verbracht, in der Künstlerkolonie am Breitenbachplatz. Ich war ein zehn-, elfjähriger Junge, der viele kannte aus der Nachbarschaft, Erich Weinert etwa oder Ernst Busch: Dann habe ich Berlin 1945 erlebt, den Neuaufbau – das sind Erinnerungen, die einen sehr stark prägen. Ich fahre häufig nach Berlin, so häufig es geht, aber dann sehne ich mich auch nach der Eifel zurück.

Das Gespräch führte Felix Müller.

Wolfgang Leonhard: Meine Geschichte der DDR. Rowohlt, Berlin. 267 S., 19,90 Euro.

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Erinnerung an Ewald Wenck

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Erinnern Sie sich an Ewald Wenck ? Unser 2. Vorsitzende hat sich ‘Opi Dopi’ gewidmet und ein 80 seitiges Buch als Erinnerung an diesen in Berlin über seine Radiosendungen im RIAS Berlin sehr populären Berliner aus seinen eigenen Aufzeichungen und den Erinnerungen seiner Ehefrau Dagmar Wenck erstellt. Neben den kurzweiligenTexten sind auch etliche Fotos, ein Namensverzeichnis und eine Filmografie mit über 250 Filmen, in denen Ewald Wenck mitgespielt hat, enthalten.

Sie. können das Buch unter Printangebot finden und bestellen.

Wir wünschen eine unthaltsame Lektüre.


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Damals war’s …

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Damals war’s …

 

Unter diesem Titel lief jahrelang erfolgreich eine Sendung im RIAS Berlin u.a. mit unserem ehemaligen Bewohner Ewald Wenck 

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Nach Kriegsende wurde Wenck in Deutschland vor allem durch seine Mitwirkung in dem RIAS-Rundfunkkabarett Die Insulaner sowie in den RIAS-Hörspielserien Pension Spreewitz und als Erzähler in Damals war’s – Geschichten aus dem alten Berlin populär. In 282 RIAS-Sendungen trat er danach ab dem 27. Januar 1970 als der älteste DJ der Welt in „Ewalds Schlagerparade“ (Autor: Michael Alex) bis zum 26. Januar 1981 auf, die er regelmäßig mit den Worten „Opi Dopi“ und „Hallo Fans, hier ist wieder Ewalds Schlagerparade – Eine moderne Hitsendung für reife Hörer“ moderierte.

 

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Wir möchten zu Ehren von “Opi Dopi” und in Anbindung an die populären Sendungen des RIAS Berlin daran anknüpfen und Ihnen zukünftig monatlich einen Bewohner der historischen Künstler kolonie unter der Rubrik

 

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in Erinnerung rufen. Wenn Ihnen in diesem Zusammenhang selbst Erinnerungen einfallen melden Sie sich bitte bei uns damit wir dies mit einbinden können.

Ihre Kueko

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