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Damals war’s … Else Lasker-Schüler

 

Am 22.1.1945 starb in Jerusalem die deutsch-jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler. Sie gehört zu den bedeutendsten Vertretern der avantgardistischen Literatur. In ihrer tiefen Religiosität lehnte sie jeden Dogmatismus ab und übernahm neben dem mystischen Judentum auch Elemente christlicher und muslimischer Traditionen auf. Sie wohnte in diesem Haus. Im 1. Stock befindet sich das Büro der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft.

In der Weimarer Republik setzte sie sich ein für die Abschaffung der diskriminierenden § 175 (Bestrafung von Homosexualität) und  § 218 (Abort). Sie war stets für eine Aussöhnung zwischen Arabern und Juden, etwa bei einem Volksfest in der Altstadt von Jerusalem mit Karussells und Waffeln. 

Sie ist jung, sie ist cool, sie ist Trend! Und das, obwohl sie vor einer gefühlten Ewigkeit gelebt hat (1869 in Wuppertal- Elberfeld geboren – 1945 gestorben in Jerusalem)!

Sie ließ sich nichts von ihren Eltern, spießigen Kaufleuten, oder den Männern sagen. Neben ihrer Ehe hatte sie Affären mit vielen Künstlern und Schriftstellern: Sie spielte mit den Männern. Das ist wahre Emanzipation, oder?  Sie lebte lange Zeit in Berlin und zog dort durch die Kneipen und Szene-Cafés.

 

Von einem rassigen Südländer, von dem sie nicht einmal den Namen verriet, bekam sie einen Sohn, nicht vom langweiligen Ehemann. Diese Frau machte Skandale über Skandale! Ihre Liebesgedichte sind geil, andere Gedichte sind ein bisschen schwer zu verstehen, manchmal ergeben sie gar keinen richtigen Sinn. Aber das zählt auch nicht. Wenn du bei deinen Freunden echten Eindruck schinden willst, denke dir eine tiefere Bedeutung aus und sage immer: »Das ist so wahr, so wahr!«

In London und Paris laufen die echten Kenner mit T-Shirts ’rum mit der Aufschrift: »Ich habe zu Hause ein blaues Klavier / und kenne doch keine Note / Es steht im Dunkel der Kellertür / seitdem die Welt verrohte …«

Aber Else Lasker- Schüler hat nicht nur „Mein blaues Klavier“ gedichtet, sie hat auch gemalt. Ihre Bilder sind kunterbunt, die Figuren sind aus dem Orient oder anderen östlichen Gebieten. Das kommt daher, dass sie die Gegend da total geliebt hat und sich auch manchmal der Prinz Jussuf von Theben (Indianer, Abigail, Blauer Jaguar, Robinson, Tino von Bagdad u. v. mehr) nannte. Manchmal sind ihre Gedichte auch sehr traurig, deshalb nicht vor einer Party oder der Disco lesen, sonst nervst du da nur! Aber bei Liebeskummer wäre das doch supigut, da kann man ein bisschen Selbstmitleid haben. Die arme Else musste 1933 aus Deutschland ins Schweizer Exil fliehen, weil man ihre Verwandten nicht mochte. Sie ist dann 1945 gestorben, könnte echt deine Uroma sein … und war doch Madonna und Lady Gaga meilenweit voraus. 

Ina Meenen (Leistungskurs Deutsch, Christianeum, Hamburg) 

 


 

Else Lasker-Schüler – Dichterin der deutschen Moderne

Flüchtling. Versöhnerin

Geboren am 11. Februar 1869 in Elberfeld an der Wupper, gestorben am 22. Januar 1945 in Jerusalem

Von Hajo Jahn

„Der Fels ist morsch/ dem ich entspringe / und meine Gotteslieder singe.“ So beginnt das wahrscheinlich erste expressionistische deutsche Gedicht. Geschrieben von Else Lasker-Schüler. Titel: „Mein Volk“. Sie gilt als erste Dichterin der Moderne in Deutschland. Junge Fans von heute gefällt sie als allererste Performerin, lange vor Madonna und Lady Gaga.

Genial und einfach zugleich fasste sie nach dem Ersten Weltkrieg im Gedicht „Weltende“ das Elend der Zeit in den zwei Eingangszeilen zusammen, gültig nicht nur nach den Verbrechen des Holocaust, sondern für alle Diktaturen: 

„Es ist ein Weinen in der Welt 

als ob der liebe Gott gestorben wär“.

Wegen solcher Versformen lieben Komponisten in vielen Ländern die Weltbürgerin Else Lasker-Schüler. Sie erreicht dabei die Klasse von Heine und Rilke: Mehr als 350 Komponisten haben ihre Lyrik vertont, darunter Paul Hindemith. Wolfgang Schmidtke, Wuppertaler wie die Dichterin, hat 14 ihrer Poeme für die WDR-Bigband in Töne umgesetzt, „weil sie so unglaublich vielschichtig sind“. Warum, das schildert er im Else Lasker-Schüler-Almanach 2006 „Wo soll ich hin?“: „Da gibt es immer wieder Gefühle und Bilder, die Innerstes spiegeln und verträumt sind – und im nächsten Moment von der Außenwelt durchbrochen werden und ins Schmerzhafe umschlagen.“

Laien unter den Bewunderern von Else Lasker-Schüler schätzen ebenso wie Fachleute vom Range des Jazzmusikers Schmidtke ihre Lyrik, weil sich ihre Gedichte nicht oberflächlich genießen lassen. In ihnen kann sich der Rezipient nicht nur sonnen. Diese Texte enthalten dunkle Momente, Schmerz und Trauer, die zu einer zwischenmenschlichen Beziehung gehören wie der unterschwellige Erzählton von Else Lasker-Schüler. Sie konfrontiert in ihren Gedichten die Außenwelt mit der Seelenwelt

„Und da die Wahrheit ich berichte wenn ich dichte, lasst allen Zweifel außer Acht!“ Das ist zwar Prosa von Else Lasker-Schüler – aus ihrem letzten, dem dritten Theaterstück „IchundIch“ – , aber jeder Satz schwingt. Vielleicht ist es dieser Blues, der Übersetzer von Spanien über Russland bis China so fasziniert, um Texte der deutsch-jüdischen Dichterin in ihre Sprachen zu übertragen wie jetzt der Grieche Georgios Kartakis oder die (türkische) Tscherkessin Safiye Can.

Erster Antikriegsroman 

Allzu gerne wird Else Lasker-Schüler weggeordnet in die apolitische egozentrische Phantasiewelt schrullig-romantischer Poeten, die sich dem Leben übergangslos in die Dichtung entziehen. Doch schrieb sie mit dem „Malik“ (1919) den Antikriegs- und Kaiserroman schlechthin und mit ihrem späten Drama „IchundIch“ (1941) eine Antifaschismus-Tragikomödie, welche Faust vor die Gretchenfrage der Deutschen Kultur angesichts des Grauens stellt. „IchundIch“ ist kühn, Chaplins und Lubitschs Faschismus-Satire ebenbürtig, Brechts und Becketts Theaterästhetik wegbegleitend und wegbereitend.

1932 erhielt sie die höchste deutsche Literaturauszeichnung, den Kleistpreis. Wenige Jahre zuvor hatte eine Zeitung dazu aufgerufen, an Kleists 150. Geburtstag sollte ein Ruf an die Nation erfolgen, „die allerärmste, die allerreichste Dichterin deutscher Sprache in ihrer Not nicht versinken zu lassen“ – das wäre 1961 gewesen und „die allerreichste Dichterin“ Lasker-Schüler 92 Jahre alt. Was als Lob gedacht war, dürfte sie als Hohn empfunden haben. Doch auch so kommt die Ehrung ziemlich spät. Mit bereits 63 Jahren ist Else Lasker-Schüler die älteste Preisträgerin in der Geschichte des Kleist-Preises. Immerhin: Sie hat sich gegen hochkarätige Kandidaten wie Hans Fallada, Rudolf Leonhard und Ernst Wiechert durchgesetzt. Gottfried Benn, ihr vielleicht geliebtester Geliebter, telegrafiert ihr am 11. November 1932: „Ein Glückwunsch der deutschen Dichtung.“

Flucht

Am 19. April 1933 muss sie flüchten. Hals über Kopf mit dem Zug aus Berlin. In die Schweiz.

Als größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte, wurde sie von Benn lange nach ihrem Tod gefeiert. Dieser Satz, schreibt ihr Biograf Jakob Hessing, klebt an seiner einstigen Geliebten wie eine Klette. Man hebt sie damit in den Dichterhimmel und schiebt sie zugleich weit von sich. Benn wusste genau, was in Zeiten des Kalten Kriegs gefragt war. Aus der Jüdin, die nicht in die deutsche Kultur passt, macht er die größte deutsche Lyrikerin – die so auch nicht zu den Juden passt. Denn die verstehen ihre exhibitionistische Art überhaupt nicht. Und dass sie für eine Versöhnung der Araber und der Juden eintrat, als die jüdischen Einwanderer noch glaubten, sie kämen in ein Land ohne Volk, macht sie für viele Israelis suspekt. Sie selbst sagt über sich:

„Bin entzückt von meiner bunten Persönlichkeit, von meiner Urschrecklichkeit, von meiner Gefährlichkeit, über meine goldene Stirn, meine goldenen Lider, die mein blaues Dichten überwachen. Mein Mund ist rot, wie die Dickichtbeere, in meiner Wange schmückt sich der Himmel zum blauen Tanz, aber meine Nase weht nach Osten, eine Kriegsfahne, und mein Kinn ist ein Speer, ein vergifteter Speer. So singe ich mein hohes Lied…ich schwöre es…bei dem Propheten Darwin, ich bin meine einzige unsterbliche Liebe.“

Als Dramatikerin wurde sie von Friedrich Dürrenmatt geschätzt, weil sie die Schönheit der deutschen Sprache in barbarischer (NS-)Zeit bewahrt habe. Und dennoch ist sie in ihrer deutschen Heimat nur einer kleinen Gemeinde von Kennern wirklich bekannt. Zumal Else Lasker-Schüler eine Dichterin ist, die konsequent die Trennung von Poesie und Leben verweigert hat.

Das ewige Leben dem, der viel von Liebe weiß zu sagen. / Ein Mensch der Liebe kann nur auferstehen!/ Haß schachtelt ein!, / wie hoch die Fackel auch mag schlagen.“ Dieses „Herbst“-Gedicht ist nicht nur hochaktuell seit dem verbrecherischen Anschlag vom 11. September 2001 in New York und dem immer stärker werdenden Hass auf fremde Kulturen und Menschen, die unter Todesgefahren nach Europa, nach Deutschland kommen. Sondern dieses Zitat zeigt auch die gesamte Lebenseinstellung der Dichterin. Schriftsteller wie sie waren nicht selten auch die einzigen, welche die Wahrheit kannten, zur Sprache brachten und ihr Worte verliehen. Wahrheit und Freiheit sind zumeist Synonyme. Speziell im Expressionismus. Else Lasker-Schüler war die Dichterin des Expressionismus – und doch war sie weit mehr.

Krieg. Zerfall – heute, damals

Ähnlich dem Expressionismus in der bildenden Kunst befasste sich der Expressionismus in der Literatur mit den Themen Krieg, Großstadt, Zerfall, Angst, Ich-Verlust, aber auch mit Wahnsinn, Liebe, Rausch Natur und Weltuntergang. Else Lasker-Schüler dennoch lediglich auf den Expressionismus zu focussieren, hieße sie einengen. Im Expressionismus wird die bürgerliche Ästhetik durch eine ‚Ästhetik des Hässlichen‘ zurückgewiesen; – wie keine andere literarische Bewegung zuvor machen die Expressionisten das Hässliche, Kranke, Wahnsinnige zum Gegenstand ihrer Darstellungen. Das jedoch trifft bei ELS nur in Maßen zu. Andererseits hat sie den Expressionismus stärker geprägt als allgemein bekannt ist. Die junge Generation der Autoren drückte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem durch Lyrik und in Lyrik aus (Lasker-Schüler, van Hoddis, Benn). Deutlich wird die Abwendung von formalen Vorgaben. Die Idee des Konstruktivismus wird in der Negierung der vorgegebenen Strukturen vorweggenommen.

Obwohl auch diese Epoche – wie jede andere – fließende Übergänge besitzt und ihre Eingrenzung natürlich stark definitionsabhängig ist, hat sich in der Literaturwissenschaft das Schlagwort des ‚Expressionistischen Jahrzehnts‘ für die Blütezeit des Expressionismus zwischen 1910 und 1920 eingebürgert, geprägt von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Während jedoch viele Autoren zunächst noch den Krieg verherrlicht hatten als eine erneuernde Kraft, die die bürgerliche Gesellschaft hinwegfegt, ändert sich das Kriegsbild bald durch die Schreckenseindrücke vieler Dichter, die selbst das Ausmaß der Vernichtung und des Elends als Soldaten an der Front erleben müssen. Bei Else Lasker-Schüler, die den Krieg nie gefeiert hatte, war der Tod ihres Freundes Franz Marc prägend. Marc hat sie verführt – zum Malen. Weil er ihr Talent erkannt hatte. Ihre Zeichnungen sind allerdings auch nicht ausgesprochen expressionistisch. 

Ähnliches lässt sich von den Architekten und anderen Künstlern des Bauhauses sagen. Sie waren Avantgardisten. Wie Else Lasker-Schüler. In Weimar hat man das erkannt. Die erste Dichterlesung, die dort am 14. April 1920 stattfand, war die von Else Lasker-Schüler. „Eigene Dichtungen. Hebräische Balladen und andere Gedichte. Der Scheik. Abigail I. von Theben“ stand auf dem doppelseitigen Flugblatt, gezeichnet von Friedel Dicker-Brandeis, die später unter tragischen Umständen weltberühmt werden sollte: Sie war die Lehrerin jener Kinder in Theresienstadt, die nach ihrer Ermordung überlebt haben durch ihre Zeichnungen – angeregt von Friedel Dicker-Brandeis, die auch die ersten Else Lasker-Schüler-Lyrikvertonungen des Komponisten Viktor Ullmann gesungen hat. Die Partituren sind möglicherweise von den Nazis vernichtet worden. Ullmann und Dicker-Brandeis wurden ermordet – aufgehende Sterne am Kunsthimmel. Und der reichte weit über die Grenzen einer Kunstrichtung hinaus.

„Du! wir wollen uns tief küssen…/ Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, /An der wir sterben müssen“, heißt es in dem Gedicht „Weltende“, das Herwarth Walden, wie zahlreiche andere Gedichte seiner Frau, vertont und später im ersten Jahrgang des „Sturm“ publiziert hat. Darunter „Ein alter Tibetteppich“. Für Karl Kraus eine „neunzeilige Kostbarkeit“. Der österreichische Schriftsteller hätte „den ganzen Heine“ für dieses Gedicht hergegeben. Welch ein Kompliment für die Dichterin.

In ihrem letzten, ungewöhnlicherweise auf Deutsch im englischen Mandatsgebiet Palästina herausgegebenen Buch „Mein blaues Klavier“, schreibt sie die Widmung: „Meinen unvergesslichen Freunden und Freundinnen in den Städten Deutschlands und denen, die wie ich vertrieben und nun zerstreut in der Welt – in Treue!“


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Förderungen im Programm „Weltoffenes Berlin“ für 2020 ausgeschrieben

Die Senatsverwaltung für Kultur und Europa gewährt im Jahr 2020 – vorbehaltlich verfügbarer Mittel – Zuwendungen zur Förderung von Kunst-, Medien-, und Kulturschaffenden, die ihre bisherigen Aufenthaltsländer aufgrund der dortigen politischen Situation verlassen haben oder verlassen müssen.

Berliner Kulturakteur/innen können sich um die Durchführung von maximal einjährigen Fellowships bewerben, um Kunst-, Medien- oder Kulturschaffende der Zielgruppe, beim Einstieg in die professionelle Ausübung ihrer künstlerischen Tätigkeit in Berlin zu unterstützen.

Mit dem Förderprogramm „Beratung, Unterstützung und Vernetzung für transnationale Kunst-, Medien- und Kulturschaffende“ werden Projekte gefördert, die der beruflichen Integration dieser Zielgruppe in Berlin dienen.

Weitere Informationen zu den beiden Ausschreibungen können im Internet unter
https://www.berlin.de/sen/kultur/foerderung/foerderprogramme/weltoffenes-berlin/

aufgerufen werden. Dort findet sich auch der Link zu dem elektronischen Antragsformular.

Der Bewerbungsschluss für die beiden Förderprogramme ist am 05. September 2019 um 18:00 Uhr.

Ansprechpartnerin für Fragen ist, Tel. 90228-745, E-Mail: Surimaya.Hartmann@kultur.berlin.de


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Demonstration der Künstlerkolonie 1930

Lebendige Geschichte 

Demonstration der Künstlerkolonie am Breitenbachplatz. Bewohner der Künstlerkolonie der grossen Wohnsiedlung für Schauspieler und Schriftsteller am Breitenbachplatz in Wilmersdorf demostrierten gegen die Kündigung dreier unruhestiftender Mieter und die Unterdrückung der Geistesfreiheit. Berlin.

-Copyright:
IMAGNO/Austrian Archives

-Entstehungsdatum: 1930


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Besuch der Künstlerkolonie in Berlin durch die Walter Hasenclever Gesellschaft

Am 22. Juli 2019 besuchte der Vorsitzende der Walter Hasenclever Gesellschaft, Mario Johnen,  die Künstlerkolonie in Berlin, für die sich der Verein Künstlerkolonie Berlin e. V. engagiert, um die Bedeutung des Wohnviertels und um die dort einst ansässigen Künstler und Intellektuellen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Vielen Dank für diesen Einsatz und viele Grüße von Aachen nach Berlin!

Kleine Gedenktafel erinnern an einzelne Persönlichkeiten und ein Mahnmal insgesamt an die politisch Verfolgten.


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Wir suchen Erinnerungen, Fotos etc zu unserer ehemaligen Bewohnerin Claire Philippe-Tellier

Wer hat Erinnerungen, Fotos etc zu unserer ehemaligen Bewohnerin Claire Philippe-Tellier aus der Laubenheimer Straße 19 ?


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Gartenterrassenstadt Wilmersdorf

Ein neuer origineller Typ moderner Großstadtbebauung tritt in der Gartenterrassenstadt Wilmersdorf in die Er­scheinung. Um ein einheitliches, großzügiges Straßenbild zu schaffen, erwirkte die Berliner Bodengesellschaft mit ihrer Tochtergesellschaft Berlin – Südwest gemeinsam mit dem Wilmersdorfer Magistrat beim zuständigen Ministerium die Aufhebung einer alten störenden Bauvorschrift, be­treffend Anordnung des Bauwichs zwischen den einzelnen Häusern zugunsten einer Reihenhausbebauung. Keine Reihenhausbebauung im Sinne der stereotypen, ein­förmigen, unschön überladenen Großstadtstraßen – nein, eine umfassende Reaktion gegen die neue deutsche Renaissance. Das Ministerium des Innern gab ohne weiteres seine Einwilligung zu der glücklichen Idee, welche schon im Modell Eindruck machte. Der von der Bau­ordnung zwischen den Häusern bzw. Hausgruppen ge­forderte, mindestens 10 m breite Bauwich, dieser Zug­schacht, der greuliche, das Gesamtbild zerreißende Sil­houetten gegen den Himmel stellt, wird einfach ausgebaut zugunsten der verbleibenden Hoffläche. Man gibt noch mehrere Quadratmeter als vordere Hoffläche zur Strasse zu, um letztere, die von Haus aus 24 m breit, zu einer eigenartig schönen, 44 m breiten , licht- und luftdurch­fluteten zu machen.

Der Schöpfer dieses neuen Typs, Architekt Paul Jatzow, äußert sich in der „Architekturwelt“ zu der überraschenden Gegenüberstellung seiner Perspektiven für Straßenanlagen mit Bauwich und ohne solchen in folgender charakteristischer Weise:

Den Berliner Vor­orten ist durch den Bauwich eine besondere Physiognomie verliehen, man möchte sagen die Physiognomie eines alten Weibes, dem die Hälfte ihrer Zähne fehlt.

Der Bauwich, der guten Absicht entsprungen, den Hinter­gebäuden und dem ganzen Baublock Licht und Luft zu­zuführen, ist eine Mifigehurt gewesen. Es erübrigt sich wohl, hierfür noch besondere Gründe anzuführen; alle Städtebauer sind sich darüber einig, daß der Bauwich bekämpft werden muß bis aufs Messer. Es ist nun gegen diesen Bauwich sowohl von Terraininteressenten Sturm gelaufen worden, weil der Bauwich für die Häuser das Unpraktischeste ist, was man sich nur denken kann, als auch von Aesthetikern, weil der Bauwich unkünstlerisch wirkt.

 

Die beifolgenden beiden Bilder zeigen eine interessante Gegenüberstellung, erstens den Bauwich, wie er leibt und lebt mit allen seinen Häßlichkeiten in ästhetischer Beziehung; man sieht besonders, wie der Bauwich Ein­blick in häßliche Höfe ergibt und das ganze Straßenbild zerreißt. Das andere Bild zeigt folgende Lösung: Für den Baublock ist dieselbe Ausnutzung vorgesehen; es ist der Bauwich auch bestehen gela.ssen worden, aber der­artig, daß man ihn zu einer wirksamen und vernünftigen größeren Fläche zusammengelegt hat, die auch eine inten­sive Durchlüftung des Blocks ergibt; es ist gewisser­maßen eine weitere luftige Gartenstraße in die Häuser­massen hineingelegt, während trotzdem vermieden wird, das die Häuser kalt und zugig werden. Jeder, der diese Gegenüberstellung sieht, wird sich ohne weiteres sagen, das  die letztere Lösung die allein natürliche und richtige sein muß.

Aber nicht nur im einzelnen, auch im ganzen offenbart sich die Tätigkeit der ebengenannten Gesellschaft. Durch gemeinsames Zusammengehen mit der Stadt Wilmersdorf entstand mitten im Häusermeer der Großstadt eine Garten­stadt – nicht im Sinne idyllischer Landhaussiedlungen, denn dazu ist der Boden zu teuer, sondern eine Garten­stadt, wo der Großstadtmensch idyllisch und doch in unmittelbarer Fühlung mit der Großstadt wohnen kann. So stellt sich die Gartenterrassenstadt Wilmersdorf als eine ideale Zusammenfassung von Großstadt und Dorfcharakter dar. Diese Wirkung wurde erreicht durch Vorgärten, 13 m breite sattgrüne Rasenflächen, die in sanften Steigungen zu den Hauswandungen hinauf wogen und hier ihre Fortsetzung finden in Spalieren, welche die Fronten der Häuser bis hinauf zum ersten Geschoß mit blütenreichen Kletterrosen umranken. Um die Aus­schmückung im kunstgärtuerischen Sinne zur Geltung kommen zu lassen, wurde eine Gesellschaft Gartenver­einigung Berlin – Südwesten , deren Gesellschafter die Eigentümer der 500 projektierten Häuser sind, gebildet, die für die gleichmäßige Unterhaltung der Gartenterrassen und der gärtnerischen Fassadenverzierung Sorge trägt. Der Anfang der Gartenterrassenstadt ist mit der Lan­dauer Straße (siehe drittes Bild) gemacht, in ähnlicher Weise wird dort das ganze sog. Rheinische Viertel aus­gebaut.

© Dieser Artikel erschien am 13. Januar 1912  in der Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen und Elsass Lothringen 


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Mahnmal für die politisch Verfolgten auf dem Ludwig-Barnay-Platz

Am 15. März 1988 wurde auf dem Ludwig-Barnay-Platz eine Tafel am Mahnmal für

„Die politisch Verfolg­ten der Künstlerkolonie“

enthüllt. Neben zahlreichen Bewohnern der Kolonie und Freunden des Vereins sowie der 6.Klasseder Alt-Schmar­gendorf Grundschule nahmen der Stadtrat für Volksbildung Herr Ul­zen, der Baustadtrat Herr Kähler, der Stadtrat für Wirtschaft und Finanzen Herr Reinecke, die Abgeordnete der SPD Frau Helga Korthaase und der Vorsitzende der Bühnengenossen­schaft Herr Driskol an der V eranstal­tung teil.

Bei leicht einsetzendem Schneefall verlief die Gedenkstunde in getrage­ner Stimmung. Holger Münzer, Vor­sitzender des Vereins Künstlerkolo­nie e.V., begrüßte die Anwesenden mit Tucholskys „Blumen auf den Weg gestreut“. Das Neuköllner Blechbläserensemble unter der Lei­tung von Detlef Hillbricht spielte Musik Alter Meister, der Schauspie­ler Helmut Krauss sprach Texte aus „Die Verbrannten Dichter“ (Theater „tribühne“ 1978). Die Veranstaltung fand zum Gedenken an den 15. März 1933 statt, als faschistische Polizei die Künstlerkolonie in Wilmersdorf „endlich aushob“, wie im „Völki­schen Beobachter“ zu lesen war. Bereits seit der Machtergreifung Ende Januar 1933 war es in der Künstlerkolonie zu Hausdurchsu­chungen und Verhaftungen gekommen.

Der Überfall am 15. März 1933 sollte den antifaschistischen Wider­stand in der Kolonie endgültig bre­chen, lebten doch hier zahlreiche be­deutende linke Künstler, Schriftstel­ler, Journalisten, Theaterleute, einige jüdischer Abstammung. Ernst Busch, Axel Eggebrecht, Manes Sperber, Hedda Zinner, Walter Za­dek und viele andere.

In seiner Gedenkrede zitierte Alexander Lon­golius (SPD) den jüdischen Schriftsteller Alfred Kantorowitz, der in der Künstlerkolonie gewohnt hatte, 1933 emigrieren mußte, und der die Ereig­nisse in der Künstlerkolonie nach der Machtübernahme in seinem „Deut­schen Tagebuch“ beschreibt.

 

 

Im weiteren ging Alexander Longolius in ei­ner langen Passage der Frage nach der Aktualität faschistischen Gedan­kenguts und dessen Überwindung nach. Alexander Longolius:

„Der Angriff vom 15. März 1933 auf die Künstler­kolonie war nicht nur ein Angriff auf Kunst und Künstler, die Siegesmel­dungen nicht nur die Erleichterung über die Beseitigung des „Roten Loches„. Der 15. März war auch all­gemein ein Gewaltschlag gegen den hier praktizierten Widerstand. Widerstand von etwa 1.000 Bürge­rinnen und Bürgern. Sie waren ziem­lich allein -und haben dennoch so viel Wirkung und soviel Angst er­zeugt. Was hätten 10.000 bewirkt? 100.000? ( … )“

Wir denken heute auch über die Leichtigkeit nach, mit der sich der Naziterror ausbreiten konnte, und wir fragen uns, wie immun wir heute gegen Wiederholungen sind.

Lange habe ich ein Fragezeichen hinter die Überlegungen gesetzt, ob wir die deutsche Vergangenheit ernst genug durchdacht haben. Heute bin ich sicher, daß es das falsche Satzzei­chen ist. Das Klima einer sozialen Akzeptanz von rechtsradikalem Denken war in Teilen unserer Gesell­schaft immer da, und dies waren lei­der auch einflußreiche und mächtige Teile. Wie sollte es auch anders sein, wenn doch für manche unserer Land­leute der Übergang von der Nazizeit zur Republik so überaus nahtlos war. Wir enthüllen heute eine Mahntafel.An vielen Orten wird jetzt nach der Vergangenheit gesucht, der V ergan­genheit von Personen, Institutionen, Orten und ihrer Verstrickung in die faschistische Unterdrückung von Menschen und Ideen. Die Unlust an diesen Aktivitäten ist dabei meist stärker verbreitet als das Engage­ment der häufig jugendlichen Spu­rensucher.

Die Aufarbeitung der braunen Jahre ist 1988 nicht nur Aufgabe für Histo­riker, sie ist immer noch ein Auftrag an unseren politischen Alltag, denn sie ist bisher nicht gelungen.

Das heißt zunächst, Kenntnisse zu ermöglichen. Wenn Abiturienten nicht sagen können, wann der 2. Weltkrieg war, werden sie wohl auch das Jahr 1933 nicht richtig einordnen können. Wenn Lehrer keine Zeit haben, ausführlich über den Nazio­nalsozialismus zu reden, Ausstellun­gen zu besuchen oder auf aktuelle neonazistische Vorfälle an ihrer Schule einzugehen, wird man die Schüler verstehen müssen, die allzu spielerisch mit den traurigen Fakten dieser Zeit umgehen.

Das heißt weiter, die Ursachen für einen neuen Nazismus zu verhin­dern. Die Arbeitslosigkeit von Ju­gendlichen ist mehr als ein Problem des Arbeitsmarktes. Die Verweige­rung einer Lebensperspektive, diese Absage unserer Gesellschaft an jun­ge Bürger ist auch die Einladung an sie, politischen Verführern nachzu­laufen.

Und das heißt drittens, daß die Hoffä­higkeit von antidemokratischen und rechtsextremen Gedanken und Ver­haltensweisen in unserer Gesellschaft endlich verschwinden muß. Der Skandal des Majdanek-Prozes­ses, die Einstellung der V erfahren gegen die beamteten Mörder am Volksgerichtshof, Pensionszahlun­gen an aktive Förderer der N azidikta­tur – das sind Zeichen für ein Klima, in dem Nazis leben konnten. Warum dann nicht auch Neonazis?( … ) Vieles aber können wir tun: Wissen vermitteln, Betroffenheit dauerhaft erzeugen, Demokratie vorleben, To­leranz einüben und die Freiräume schaffen, die Menschen zur V erwirk­lichung ihrer Würde brauchen, auf die sie einen Anspruch haben.

Für Kunst und Künstler gilt dies in besonderem Maße. Freiraum. Beide Wortteile begrunden die Möglichkeit für Kunst zu wirken, überhaupt tätig zu sein. Der Vorbildcharakter der Künstlerkolonie ist auch heute unge­brochen. ( … )

Vieles wäre in der Geschichte unse­res Volkes anders verlaufen, wenn das Beispiel der Künstlerkolonie Nachahmer gefunden hätte. Vieles wäre anders gekommen, wenn die politische Aufmerksamkeit ihrer Bewohner mehr Echo bei Zuhörern, Zuschauern und Lesern gehabt hätte. Und vieles wäre anders geworden selbst nach der Befreiung 1945, wenn die Generation vor uns, 1948 hier diese Tafel enthüllt hätte. ( … ) Unsere Lektion heißt, Versäumtes nachzuholen, in Freiräumen, in Ni­schen unserer Gesellschaft nicht gleich Subversives zu sehen, die na­turnotwendige Rebellion der Kunst anzuerkennen und zu wünschen und so der dummen Engstirnigkeit jegli­cher Intoleranz entgegenzutreten.“ (A. Longolius) Der Verein Künstlerkolonie Berlin e.V. plant, den 15.März als Gedenk­tag jährlich zu begehen, um die Erin­nerung an die politisch verfolgten Künstler der Kolonie wachzuhalten und an die Freiheit von Kunst und Kultur überhaupt zu mahnen.

© Künstlerkolonie Berlin e.V.

Dieser Artikel erschien erstmals 1988 anläßlich der Enthüllung der Gedenktafel


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Neues vom Breitenbachplatz 07 2019

Liebe Bezieher des Newsletters Breitenbachplatz,

 
es gibt über ein paar Neuigkeiten zu berichten. Eine gute Nachricht: In zwei seit Monaten leeren Ladengeschäften ist neues Leben eingezogen:
 
– In der ehemaligen Weinstube Breitenbachplatz 12 neben dem Santa-Café eröffnet an diesem Wochenende das österreichische Heurigen-Lokal „Nussbaumerin“. Es handelt sich um einen Ableger des Restaurants „Nussbaumerin“ in der Leibnizstraße, das zuletzt vom Guide Michelin mit dem „Bip Gourmand“, der Vorstufe für einen Stern ausgezeichnet wurde. Es soll neben österreichischem Wein „Schmankerln“ vom Tafelspitz bis zum Kaiserschmarr`n geben.
 
– Direkt daneben hat die Berliner Sparkasse ein SB-Center eingerichtet. Damit steht jetzt erstmals wieder ein Geldautomat rund um die Uhr zur Verfügung, denn der Postbank-Automat an der Kreuznacher Straße ist nur während der Öffnungszeiten des Postbank-Centers zugänglich.
 
Und wie geht es weiter mit dem Breitenbachplatz? Nachdem das Abgeordnetenhaus, wie berichtet, direkt vor der Sommerpause den Abriss der Brücke und die Verbesserung der Aufenthaltsqualität inklusive Tempo 30 beschlossen und die Bürgerbeteiligung bei der Machbarkeitsstudie festgeschrieben hat, bereiten wir uns als Bürgerinitiative darauf vor, die Anwohnerinteressen einzubringen. Mehr demnächst. Erfreulich ist jedenfalls, dass die Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf direkt vor den Sommerferien zwei unserer seit Jahren vorgetragenen Forderungen übernommen hat, nämlich
 
– die Reduzierung des Autoverkehrs um den Platz auf eine Fahrspur, damit – analog zum Südwestkorso und der Englerallee – die rechte Spur den Radfahrern vorbehalten sein kann. Gefordert wird vom Land auch die Rückverlegung der Bushaltestelle Schorlemerallee auf Höhe des südlichen U-Bahn-Ausgangs. Link: ogy.de/bxlk
 
– die EInrichtung eines Zebrastreifens zur sicheren Überquerung auf Höhe des Medizinischen Versorgungszentrums Orthopädie am südlichen U-Bahn-Ausgangs. Link: ogy.de/zq3p
 
Zur Erinnerung: Jeden Mittwoch ab 17 Uhr spielen wir Boule auf dem Platz. Einfach kommen! Wenn sich Gruppen zu anderen Zeiten zusammenfinden wollen, können auch sie gegen 20 Euro Pfand im Santa-Café einen Satz Kugeln ausleihen.
 
Wie berichtet, haben wir uns mit fünf anderen Bürgerinitiativen zum „Netzwerk Menschengerechte Stadt“ www.menschengerechte-stadt.de zusammengeschlossen. Das Netzwerk wird in nächster Zeit die Überdimensionierung der Bundesallee zum Thema machen. Am 8. August ab 17 Uhr findet zum Auftakt eine „lange Tafel“ auf dem Friedrich-Wilhelm-Platz in Friedenau statt.
 
Für Kurzentschlossene noch ein Kulturtipp: Am 14. Juli um 16 Uhr erinnert die Künstlerkolonie am Breitenbachplatz mit einem Konzert an die Künstler, die 1927  bis zur Verfolgung durch die Nazis ab 1933 hier lebten. Details: www.kueko-berlin.de
 
Noch viele schöne Sommertage wünscht
 
Initiative Brreitenbachplatz
Ulrich Rosenbaum


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Drei Generationen Familie Rickelt

Rückblicke auf meine Jugend in der Künstlerkolonie

 © Text- und Fotorechte bei Michael Rickelt

Wenn ich an die Künstlerkolonie denke erinnere ich mich an den Schrankkoffer der Lina Lassen, und es kommt mir das Brummen der Flugzeugmotoren in der Nacht in den Sinn. Die Häuserblocks waren zum großen Teil von Bom­ben verschont geblieben. (Wie uns die Konzertsängerin Nuscha Richter, die 1945 Dolmetscherin des russischen Stadtkommandanten gewesen war, berichtete, wurde den russischen Bombern befohlen, die Künstlerkolonie zu ver­schonen, weil dort der den Russen bekannte Ernst Busch gewohnt hat. Dennoch fiel eine kleine Bombe in das Haus am Laubenheimer Platz 9. Anm.d.R.). Nach Kriegsende flogen die Militärflugzeuge der Amerikaner über den Laubenhei­mer Platz, der 1963 in Ludwig-Barnay-Platz umbenannt wurde. Sie flogen hier schon tiefer, bevor sie in Tempelhof zur Landung ansetzten. Man konnte die runden Fenster am silbernen Rumpf erkennen. In späterer Zeit, als ich mal mit einer Propellermaschine der British European Airways in Richtung Frankfurt geflogen bin, habe ich den Platz mit den Bäumen und dem  Sandkasten von oben sehen können.

Wir hatten Pappe in den oberen Fenstern statt Glasscheiben. Die sehe ich noch, auch wie das Licht schlagartig ins Zim­mer kam, wenn das Fenster geöffnet wur­de. Während der Zeit der Blockade flogen die dicken Brummer im Stunden­rhythmus, aber es störte mich kaum als Kind. Ich spielte auf den Holzdielen des Fußbodens Panzer mit Schachteln, in die ich kleine Zweige steckte. Ich bestaunte die schweren Militär-Panzer der Amerikaner, wenn sie mit grell leuchtenden Scheinwerfern über den Südwestkorso rasselten und die Soldaten von ihrem Kanonenturm herunterwinkten.

Bis auf diese lautstarken Signale der Außenwelt schienen die Häuser um den Laubenheimer Platz wahre Gefilde der Ruhe und Abgeschiedenheit zu sein. Um zwölf Uhr mittags läuteten die Glocken vom Turm der Kirche am nahe gelegenen Bergheimer Platz. Dann klapperten Pferdehufe, ein Wagen der Domäne Dahlem stellte sich auf, die Leute kamen mit Blechkannen, um Milch zu holen. Die Szenerie hat geradezu ländlich gewirkt. Das alles konnte ich als kleiner Junge vom Fenster aus beobachten. Ich wohnte im ersten Stock am Laubenhei­mer Platz 6, zusammen mit meiner Mutter und der Groß­mutter väterlicherseits. Mein Vater (Martin Rickelt) war in sowjetischer Gefangenschaft in Sibirien. Er hatte meine Mutter während des Krieges in der Ukraine kennengelernt, eine junge Sängerin namens Tamara Ponomarenko.

Das war im Fronttheater von Slawjansk, das er leitete. Eine solche Beziehung war natürlich im „Dritten Reich“verboten, aber er hatte es dennoch fertiggebracht, sie nach Deutsch­land reisen zu lassen, wo sie bei seiner Mutter in der Künstlerkolonie unterkam. Geboren wurde ich in Schmargendorf, im Säuglingsheim an der Lentzeallee.

Marie Baumann, meine Großmutter, stammte aus einer großbürgerlichen Familie. Sie war in Riga und Freiburg im Breisgau aufgewach­sen und fühlte sich als junge Frau vom Glanz der aufstre­benden Theater-Me­tropole Berlin mäch­tig angezogen. Sie wollte Schauspiele­rin werden und be­gegnete dem als Cha­rakterdarsteller be­kannt gewordenen Gustav Rickelt, meinem Großvater.

Zu jener Zeit war dieser schon in den Fünfzigern, spielte im Berliner Künstlertheater in Hauptmanns Biberpelz die Rolle des Rentiers Krüger und war mit dem Dichter Frank Wedekind befreun­det. Gustav Rickelt, der spätere Präsident der Bühnen­ genossenschaft und als solcher Gründer der Künstlerkolonie, hatte das abenteuerli­che Wanderleben ei­n es Theater­schauspielers mit allen Sonnen- und Schattenseiten ken­nengelernt. Um 1890 befand er sich mit den Meiningern auf Tour­nee in Amerika. Der Neue Theater-Alma­nach von 1892 ver­merkt ihn als Ensemblemitglied ei­nes deutschsprachi­gen Thalia-Theaters in der Bowery, New York

In dem autobiografi­schen Buch „Königin, das Leben ist doch schön, mit dem Untertitel „Ein deutscher Theater-Roman“, schildert er an­schaulich einige Episoden aus dieser Zeit. Als mein Vater aus Russland zurückkehrte, versuchte er, wieder als Schauspieler in Berlin Fuß zu fassen. Die Situation war die denkbar schlechteste, die Theater waren zerstört. Immerhin betrieben die Besatzungsmächte Rund­funkstationen. Aber irgendjemand aus dem Nachbarhaus muß ihn wegen seiner russischen Frau bei den Amerika­nern denunziert haben. Daraufhin bekam er Arbeitsverbot beim RIAS. Und im Osten gab ihm ein Kulturfunktionär insgeheim den guten Rat, lieber im Westen zu bleiben. Der das sagte, war Kulturminister der DDR, er hieß Johannes R. Becher (ebenfalls ehem. Bewohner der Künstlerkolonie, Anm.d.R.) und war ein Bekannter von Niels, dem Bruder meines Vaters, der in Dänemark lebte.

Aus der Verbindung meines Großvaters mit Marie Baumann gingen zwei Söhne hervor, Niels und Martin. Da Gustav Rickelt mit einer anderen Frau verheiratet war, hießen sie Baumann. Erst später ließ ihr Vater die beiden legalisieren und seinen Namen annehmen. Nachdem die ersten Wohn­blocks der Künstlerkolonie zwischen Südwestkorso und Kreuznacher Straße errichtet worden waren, bekam Marie Baumann in der Bonner Straße eine Wohnung, die sie mit ihren Söhnen bezog.

Auch ihr Bruder, Paul Baumann, wohnte nun einige Häuser weiter. Er hatte in München einen literarischen Verlag „Die Wende“ gegründet und ein kostspieliges Mappenwerk mit Druckgrafiken herausgegeben. Seinerzeit bekannte Künst­ler wie Emil Pirchan, Wilhelm Schnarrenberger und Emil Betzlerwaren daran beteiligt. In Berlin unterrichtete er dann als Lehrer an der Privatschule des Pädagogen Berthold Otto in Lichterfelde. Über diesen hat er in seinen letzten Lebensjahren ein wissenschaftlich-biografisches Werk ver­faßt. Ich bin oft die vielen Stufen zu Paul Baumanns Wohnung in der Bonner Straße 1 hinaufgestiegen und habe mich in die merkwürdigsten seiner unzähligen Bücher vertieft. Dicke alte und wertvolle Folianten mit Bildnissen von Gelehrten und geheimnisvollen Pflanzen standen in den Regalen, die auch die Wände des Flurs einnahmen. 

Ein anderer Bruder meiner Großmutter wohnte ebenfalls in der Künstlerkolonie. Hans Baumann, der als Presse­zeichner für die BZ am Mittag begann und sich dann einen Fotoapparat zulegte, um Bilder von berühmten Persönlich­keiten wie Gustav Stresemann, Gerhart Hauptmann oder Mussolini zu schießen. Diese wurden großformatig in der Berliner Illustrierten veröffentlicht. Als die Nazis kamen, ging er nach London, wo er zum Chefreporter der Picture Post avancierte. Als Felix H. Man ist er später in die Geschichte des Foto-Journalismus eingegangen.

Während mein Vater die Berthold-Otto-Schule besuchte, ging sein älterer Bruder Niels auf die Karl-Marx-Schule in Neukölln. Hier hatte er sich schon früh kommunistisch orientierten Schüler- und Studentengruppen angeschlos­sen. Als die Künstlerkolonie, der „rote Block“, im März 1933 von SA-Männern umstellt wurde, fand in der Wohnung meiner Großmutter eine erste Hausdurchsuchung statt. Aber außer ein paar Büchern mit verdächtigem lnhaltfanden sie nicht das, was sie suchten. Niels war bereits unterge­taucht und befand sich auf dem Weg über die Ostsee nach Kopenhagen. Während der deutschen Besatzungszeit agier­te er im politischen Untergrund für den dänischen Wider­stand. Nach dem Krieg blieb er in Dänemark und bekleidete eine Stelle im Staatsarchiv. Das Arbejdermuseet in Ko­penhagen bewahrt seinem politischen Wagemut ein An­denken in Form von Briefen, Dokumenten und Fotos. Darunter auch ein Foto seiner Mutter, die bis zu ihrem Tode 1975 zurückgezogen in ihrer Wohnung in der Bonner Straße 8 lebte.

Meine Eltern und ich waren vom Laubenheimer Platz in die Kreuznacher Straße gezogen. Die von Reben bewachse­nen Fassaden waren sonnenverwöhnt, den ganzen Som­mer über summten die Wespen. Gegenüber erstreckten sich die Schrebergärten bis zum Breitenbachplatz.

Im Parterre unseres Hauses wohnte eine ältere Dame. Es war die Schauspielerin Lina Lassen. Sie trat bereits in Stummfilmen auf, spielte mit Zarah Leander und Gustaf Gründgens und wirkte in einem der letzten Filme des „Dritten Reiches“ unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner mit. Ganz oben im Haus sah man ab und zu vom Balkon einen stattlichen Mann mit gebräuntem Oberkörper und Hornbrille herunterschauen, es war der Schriftsteller Os­wald Richter-Tersik, der Unterhaltungsromane wie „Tänze­rin der Liebe“ und „Lady Hamilton“ verfaßt hatte.

Mein Zimmer ging zum Hof hinaus, der war ziemlich dunkel. Aber wir Kinder rannten dort gern herum, sehr zum Verdruß des Hausmeisters, einer korpulenten Respektsperson. Wir verpaßten ihm den Spitznamen Fiegenklotz und machten uns einen Spaß daraus, vom Hof gejagt zu werden. Sonst malten wir mit Kreide auf dem Asphalt der Straßen am Laubenheimer Platz weitläufige Grundrisse unserer Fantasie­häuser. Kein einziges Kraftfahrzeug war zu sehen, das unser Treiben hätte beeinträchtigen können.

Meine erste Schule war die ehemalige Gartenarbeitsschule in der Dillenburger Straße. Dorthin hatte ich einen recht weiten Weg, der über den Breitenbachplatz führte. Ich habe noch das friedliche Bild des Platzes vor Augen mit den hohen Pappeln, die den Eingang zur U-Bahn überragten. Später kam ich in die gerade neu erbaute Pavillonschule am Rüdesheimes Platz, die zu einem Aushängeschild für die damals moderne Schulpolitik des Berliner Senats wurde. Zur Eröffnung traten wir im Schulchor auf. Bezirksbürger­meister Dumstrey übergab den Goldenen Schlüssel an die Rektorin, Frau Schnee, eine begnadete Pädagogin.

Der Einser-Bus fuhr über den Südwestkorso in Richtung Moabit. Mit diesem Bus fuhr ich abends als Neunjähriger in die Bismarckstraße ins Schiller-Theater. Mein Vater hatte mich dem Intendanten Boleslaw Barlog vorgestellt, und nachdem ich als „Weberjunge“ in Hauptmanns Die Weber zu den Ruhrfestspielen nach Recklinghausen mitfahren durfte, bekam ich eine kleine Rolle im „Hauptmann von Köpenick“. Den spielte der legendäre Werner Krauß. Ich trat in einer Szene als Sohn des Bürgermeisters Obermüller auf, den Martin Held an der Seite von Bertha Drews so glänzend witzig darstellte.

Auch beim Film wirkte ich mit, wo ich den erwähnten Regisseur Wolfgang Liebeneiner kennenlernte. Ich spielte einen Jungen in kurzen Lederhosen. Meine Partnerin war Antje Weißgerber: sie verkörperte eine schöne Frau, die im Rollstuhl saß und unglücklich in einen Mann verliebt war (Hans Söhnker). Der Film hieß Die Stärkere. Meine Mutter trat in Konzerten auf, sie sang als Mezzoso­pranistin z.B. auf der Freilichtbühne Rehberge im Wedding die Saffi im Zigeunerbaron von Johann Strauß. Später hat sie mit ihrer klaren und temperamentvollen Stimme russi­sche Lieder von Glinka und Gurilew vorgetragen.

Einige Schauspieler, die mit meinen Eltern befreundet waren, arbeiteten am Berliner Ensemble im Theater am Schiffbauerdamm. Zu ihnen gehörte Heinz Schubert, der mit seiner Frau llse und zwei kleinen Töchtern auch in der Künstlerkolonie wohnte, in der Laubenheimer Straße 7.

Heinz Schubert wurde von Bertolt Brecht entdeckt und entwickelte sich auf dessen epischer Bühne zu einer markanten Darstellerpersönlichkeit. Die Familien Schu­bert und Rickelt sind im Sommer zusammen nach Holland zum Zelten gefahren und später nach Schweden. Ich habe Heinz Schubert als Jugendlicher bewundert, weil er einer der wenigen Erwachsenen war, die es wagten, mit Blue Jeans herumzulaufen. Das war damals verpönt und blieb den verrufenen Halbstarken vorbehalten. Nach dem Bau der Mauer gingen die Schuberts nach Westdeutschland, und in späteren Jahren wurde Heinz Schubert als Ekel Alfred Tetzlaff zum Liebling der Fern­seh-Zuschauer. In jenen Jahren muß in Westberlin eine allgemeine Aufbruchstimmung geherrscht haben. Auch mein Vater folgte einem Ruf an ein westdeutsches Theater. Daß er gegen Ende seiner Schauspielerlaufbahn die Figur des hinterhältig-fiesen Alt-Nazis Onkel Franz in der „Linden­straße“ verkörpern und damit populär werden würde, kann vielleicht als Ironie des Schicksals gesehen werden. Für uns hieß es jedoch, Abschied zu nehmen von Freun­den, von Berlin und von der Künstlerkolonie. Zu unserem Umzugsgepäck gehörte unter anderem ein schwerer schwarzer Schrankkoffer, in welchen Anzüge und Kostü­me eingehängt werden konnten. Den hatte die ältere Dame vom Parterre, Lina Lossen, kurz vor ihrem Tod meinem Vater vermacht. Auf dem blechumrahmten Schild konnten Zielort und Absender angegeben werden. Mit Schreibma­schine getippt stand nun hier zu lesen, Zielort: Badisches Staatstheater Karlruhe – Absender: Berlin-Wilmersdorf, Kreuznacherstraße 38. Als Erinnerung an unseren Weg­gang aus Berlin habe ich diesen Schrankkoffer bis auf den heutigen Tag aufbewahrt. 

© Michael Rickelt, Künstlerkolonie Berlin e.V.

 


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Gedenken an Graf Stauffenberg und Ludwig Beck am 20. Juli 2019

Zum 75. Mal jährt sich am Samstag, 20. Juli 2019, der gescheiterte Attentatsversuch auf Hitler durch die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Juli 1944.

Der gebürtige Schwabe hatte seinen letzten Wohnsitz in der Tristanstraße 8-10, gelegen im heutigen Ortsteil Nikolassee des Bezirks Steglitz-Zehlendorf. Zusammen mit Generaloberst a.D. Ludwig Beck, dessen letzter Wohnsitz in der Goethestraße 24 (Ortsteil Lichterfelde) lag, zählte er zu den prägenden Figuren des militärischen Widerstands aus den Reihen der Wehrmacht.

Hätte die Operation „Walküre“ ein glückliches Ende gefunden, wäre Ludwig Beck provisorisches Staatsoberhaupt eines neuen und demokratischen Deutschlands geworden. Für den Bezirk Steglitz-Zehlendorf ist es Ehre und Verpflichtung zugleich, das Erbe der bürgerlichen und militärischen Widerstandbewegung gegen das NS-Regime zu pflegen und die Erinnerung daran wachzuhalten.

Der Berliner Südwesten war eine der Keimzellen des Widerstands, die christliche Überzeugung vieler Protagonisten eine wesentliche Triebfeder. Nicht nur der „Kreisauer Kreis“ um Peter Graf Yorck von Wartenburg ist auf das Engste mit unserem Bezirk verbunden, auch Pastor Martin Niemöller von der „Bekennenden Kirche“, dessen Gemeinde in Dahlem lag, wirkte hier.

Stellvertretend für alle, die am Widerstand des 20. Juli beteiligt waren, soll besonders an Graf Stauffenberg und Ludwig Beck erinnert werden. Hierzu lädt das Bezirksamt, vertreten durch Bezirksstadtrat Frank Mückisch, zu zwei aufeinander folgenden Feierstunden an unterschiedlichen Orten ein: zunächst in die Tristanstraße, danach in die Goethestraße.

Der Bezirk freut sich, mit Diplom-Pädagogin Elisabeth Heidötting-Shah von der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ eine sachkundige Referentin gewonnen zu haben. Umrahmt wird die Gedenkrede durch einen feierlichen Musikbeitrag.

Beginn ist am 20. Juli 2019 um 10:00 Uhr am Standort Tristanstraße 8-10, 14109 Berlin-Nikolassee. Um 12:00 Uhr wird die Veranstaltung am Standort Goethestraße 24, 12207 Berlin-Lichterfelde fortgesetzt.


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